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„Dieses Buch hat

kein Alter“ 

Übersetzung: Tina Wünschmann05.11.2024

Das Buch Feuerdörfer von Ales Adamowitsch, Janka Bryl und Uladsimir Kalesnik ist über Generationen hinweg zu einem der prägendsten Werke der belarussischen Literatur geworden. Wir haben zeitgenössische Autorinnen, Schriftsteller und Lyrikerinnen aus Belarus gefragt, welche Bedeutung das Buch für sie hat.  

Eva Viežnaviec (Sviatlana Kurs), Schriftstellerin 

Das Buch erschien Ende der 1970er Jahre, ich las es 1982, damals war ich zehn Jahre alt. In diesem Alter begann die sowjetbelarussische Schule damit, die Schüler in die allgegenwärtige Thematik des Großen Vaterländischen Krieges zu hüllen. Lukaschenka imitiert heute die 1970er-80er, als die gesamte belarussische Geschichte auf Opfersinn und Leiden der Jahre 1941-45 reduziert wurde. Der Fokus wurde derart festgezurrt, damit die Menschen nichts als diese schrecklichen vier Jahre sahen und erinnerten, um sie in Schrecken und Trauer zu halten, damit sie sich fürchteten, sich fügten und sich nicht entfalteten. Jedoch: Auf der Welle dieser Indoktrination geschah auch etwas, das die Sowjets nicht erwartet hatten – eine Expedition durch die Dörfer und die Entstehung eines wahrhaftigen Buches über den Genozid am belarussischen Volk. Und diesen Genozid hat es fraglos gegeben – sowohl seitens der stalinistischen UdSSR als auch seitens Hitlerdeutschlands. Deshalb ist es so schmerzhaft für mich, dieses Buch zu lesen – damals wie heute. Als sei ich zu nah an die Scheune herangetreten, in der meine Vorfahren verbrannten – meine Großmutter, damals 19 Jahre alt, ihre Mutter und vier jüngere Geschwister, darunter auch der zweijährige Michas.

Janka Bryl (links) und Ales Adamowitsch (rechts) / Foto: Uladsimir Kalesnik, 1970-1973, © Privatarchiv Natalia Adamowitsch 

Olga Bubich, Künstlerin und Autorin 

Ein halbes Jahrhundert, nachdem Adamowitsch diejenigen interviewte, die aus erster Hand erfahren hatten, wozu Gleichgültigkeit, Respektlosigkeit und letztlich blinde Grausamkeit gegenüber Mitmenschen führen können, habe ich das Gefühl, dass wir – als moderne Individuen – folgende Fragen stellen müssen: Was hat jede/r von uns getan, um das Nie wieder-Versprechen zu halten? Wie lange können wir es uns erlauben, die Rolle einer stillen Beobachterin einzunehmen? Was muss passieren, damit die heranwachsende Generation junger, gutgekleideter, Nazi-huldigender Europäer die Stimmen der überlebenden Bewohner der 140 niedergebrannten belarussischen Dörfer hört? Wie können wir den vergesslichen, reichen Kontinent in das kollektive Gedächtnis meiner Vorfahren eintauchen lassen und dafür Sorge tragen, dass ein aufrichtiger, tiefgreifender Dialog entsteht, der allen eine gerechte Zukunft verspricht? Wie bleibt man menschlich angesichts eines leichtfertig, aber beharrlich beförderten Gedächtnisverlustes? 


Julia Cimafiejeva, Lyrikerin 

Ich weiß nicht, ob Eltern ihren Kindern heute noch solch eine furchterregende Lektüre anbieten, aber wir wuchsen mit Büchern und Filmen über den Zweiten Weltkrieg auf. Dieses und ähnliche Werke wurden für mich zu einer Art Impfung gegen Gewalt, aus ihnen rührt meine absolute Ablehnung von Brutalität. Andererseits war es eine Ergänzung meiner Familiengeschichte. Ein Großvater kämpfte im Krieg, der andere war erst im Konzentrationslager, später als Zwangsarbeiter in Deutschland. Beide Großmütter überlebten die Besatzung in ihren Heimatdörfern. Deshalb ergänzte das Gelesene und in Filmen Gesehene ihre Erzählungen – oder ersetzte gar das Nichterzählte. Und natürlich traumatisierte es uns für den Rest unseres Lebens. 

Es ist bezeichnend, dass die Arbeit an diesem Buch in Belarus erst Anfang der 1970er Jahre begann, 30 Jahre nach den Ereignissen … Die Dorfbewohner hatten bis dahin keine literarische Stimme, um das Erlebte zu beschreiben, ihre Geschichten wurden nur mündlich weitergegeben – oder nicht selten verschwiegen, um der neuen Generation das Trauma zu ersparen.  


Valzhyna Mort, Lyrikerin 

Die Wirkung ist so total, dass ich sie gar nicht als solche begreife. Wenn man dieses Buch einmal gelesen hat, muss man für immer damit leben. 

Mehr noch als Menschen und Geschichten lauern darin die einfachen Details: Mantel, Brunnen, Kissen, Pforte, Furche, Brot. Zwischen den Menschengeschichten, die man unmöglich lesen kann, halten einem diese Worte die Hand. Dieses Buch kann man gerade deshalb lesen, weil es zwischen den Menschen auch den Mantel, den Brunnen, das Kissen und die Gartenpforte gibt. Und auch das Wort lebendig – ein lebendiger Mensch, lebendige Leute, ein lebendiges Kind. In diesem Buch hat dieses Wort eine andere Bedeutung. Es atmet Bedeutung. Es lebt auf der Buchseite. Es liest sich furchtbar und schmerzhaft. 

Dieses Buch hat kein Alter. Es existiert zugleich 50 Jahre nach seiner Niederschrift und 50 Jahre vom Heute entfernt. In 50 Jahren wartet es schon, wenn wir dann noch leben. Es ist eines der Bücher, ohne das ich mich selbst nicht erinnere.


Viktar Zhybul, Schriftsteller 

Dank Büchern wie diesem wird Geschichte lebendig, emotional und beseelt. Auch andere belarussische Autoren wählten später diese Form und schrieben Bücher, die auf Gesprächen mit Menschen basieren, die den Krieg, eine Katastrophe oder historische Verwerfungen erlebt haben (die Mehrheit der Werke Swetlana Alexijewitschs, Byu u pana werabeika hawaruschtschy [dt. Der Herr hatte einen sprechenden Spatzen] von Źmicier Bartosik oder zu den letzten Trägerinnen einzigartigen Wissens gehören Schept [dt. Geflüster] von Siarhiej Lieskieć über Dorfheilerinnen).  

Feuerdörfer berichtet vom Zweiten Weltkrieg, kann aber leicht auch auf tragische Ereignisse der Gegenwart übertragen werden. Man mochte meinen, Hitlers Faschismus sei lange besiegt, aber leider bringt jede neue Zeit neue Ismen, neue Brennpunkte auf der Weltkarte und neue Kriegsverbrechen. Die humanistische Botschaft des Buches bleibt also auch heute aktuell. 


Aus dem Belarussischen und Englischen von Tina Wünschmann