-

Die verbrannten Dörfer von Belarus 1941-1944

Text: Aliaksandr Dalhouski, Lukas Hennies, Christoph Rass12.11.2024

Hinter den Zahlen stehen Orte und Menschen.

„Anstelle des Dorfes Krasniza ist nur noch Wald, gar nicht mal so jung. Und ein kleines Denkmal am Wegesrand, für ein ganzes Dorf und seine Menschen … 
Wo Tupitschyzy lag, stehen vereinzelte Birnbäume und fast schon erschreckend bizarre, verkohlte Eichen, die nun ohne Menschen alt werden müssen … “

Mit diesen Worten beschrieb Ales Adamowitsch 1975 in seinem Buch Feuerdörfer, was von den Dörfern in Belarus noch übrig war – sofern überhaupt etwas übriggeblieben war.1 Er besuchte einige Dutzend von tausenden Orten, die der deutschen Besatzung in Belarus zwischen 1941 und 1944 zum Opfer gefallen waren. Einer dieser Orte war das Dorf Chatyn. Wo einst die Häuser standen, befindet sich heute eine der wenigen Gedenkstätten, die außerhalb von Belarus bekannt ist und einen Eindruck der Verbrechen des NS-Regimes vermittelt. Insgesamt wurden etwa 9200 Dörfer durch die deutsche Besatzung zerstört, viele davon für immer. Die systematische Gewaltstrategie der „verbrannten Dörfer“ ist in Deutschland auch 85 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch immer kaum im öffentlichen Bewusstsein verankert. In der Forschung hingegen helfen neue Datenanalysen inzwischen dabei, die monströsen Ausmaße der deutschen Verbrechen während der Besatzung in Belarus und des NS-Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion genauer zu erfassen. 

Wie sah also die Gewalt gegen die Zivilbevölkerung im Krieg des Deutschen Reiches gegen die Sowjetunion auf belarusischem Territorium aus? Und was bedeutete dabei die Gewaltstrategie der „verbrannten Dörfer“? Die Historiker Aliaksandr Dalhouski, Lukas Hennies und Christoph Rass geben Antworten und Einblicke. 

Als der deutsche Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 begann, überschritt die Wehrmacht zuerst die Grenze zur Belarusischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR). Repressalien, Gewalt und Ausbeutung wurden für die Zivilbevölkerung zum Alltag, während die deutschen Besatzer ihre Herrschaftsstrukturen ausbauten, um das Land in einen NS-„Lebensraum“ zu verwandeln. 

Die deutsche Präsenz in Belarus zwischen 1941 und 1944 lässt sich in drei Phasen gliedern: die rasche Eroberung im Sommer 1941, die Konsolidierung der Besatzungsherrschaft bis Ende 1943 und schließlich der Rückzug der Wehrmacht 1944. Bereits in der ersten Phase folgten den Verbänden der Wehrmacht die sogenannten Einsatzgruppen des Sicherheitsdienstes – Mordkommandos, deren Ziel die systematische Ermordung bestimmter Bevölkerungsgruppen war. Die deutsche Vernichtungspolitik richtete sich dabei zunächst insbesondere gegen die jüdischen Gemeinden. 

Während der zweiten Phase, in der das Generalkommissariat Weißruthenien als Teil des Reichskommissariats Ostland und als Kernstück der deutschen Verwaltung in Belarus entstand, versuchten die Besatzer, ihre Herrschaft durch den Einsatz sich schnell entgrenzender Gewalt dauerhaft zu sichern. In Reaktion darauf erhielt die Partisanenbewegung in Belarus zunehmend Zulauf und wurde zu einer wachsenden Bedrohung für die Besatzer. Wehrmacht, Polizeiverbände und Einsatzgruppen antworteten mit immer größerer Brutalität, die das gesamte belarussische Territorium in Wellen überzog. Die Strategie der „verbrannten Dörfer“ wurde ab 1942 unter dem Vorwand der Partisanenbekämpfung erheblich ausgeweitet und im ganzen Land umgesetzt. 

Nach belarusischen Angaben wurden zwischen 1941 und 1944 insgesamt 209 Städte und 9200 Dörfer zerstört, davon 628 Dörfer mitsamt ihrer Bevölkerung vollständig ausgelöscht. Viele dieser Orte wurden nach dem Krieg nicht wieder aufgebaut und sind bis heute Mahnmale der Verwüstung.2

„Partisanenjagd“. Deutsche verhören Einheimische, die wegen des Verdachts der Zusammenarbeit mit den Partisanen verhaftet wurden. Region Witebsk, Belarus, Winter 194142 / Foto © Privatsammlung Arthur Bondar 

Dazu trug auch die dritte Phase der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft bei. Als im Angesicht der bevorstehenden Niederlage der Rückzug der deutschen Truppen aus Belarus begann, hinterließen die Besatzer von Ost nach West systematisch „verbrannte Erde“. 

Das verbrannte Dorf – Symbol der Erinnerung an Krieg und Besatzung in Belarus 

Regional und über die drei Phasen der deutschen Herrschaft über Belarus hinweg nahm die Besatzungspolitik unterschiedliche Formen an, war jedoch stets geprägt von dem bedingungslosen Anspruch der Herrschaftssicherung, der wirtschaftlichen Ausbeutung und der rassistischen Vernichtungspolitik.3

Die jüdische Bevölkerung wurde systematisch verfolgt und ermordet, sowohl in den Städten und Dörfern als auch nach Deportationen in den Vernichtungslagern und an Mordstätten wie Maly Trostenez. Zugleich musste die belarusische Zivilbevölkerung Zwangsarbeit leisten, sei es in der Landwirtschaft, der gewerblichen Wirtschaft oder nach ihrer Verschleppung im Deutschen Reich. Während die Partisanenbewegung in den Jahren 1942 und 1943 zunehmend Widerstand organisierte, reagierte die Besatzungsmacht mit immer härteren Vergeltungsmaßnahmen: ganze Landstriche wurden in Schutt und Asche gelegt und Hunderttausende Menschen getötet. 

Durch Krieg und Ausbeutung kam der Tod für viele Menschen auch durch Mangelversorgung, Hunger und Krankheit. In den Städten konnten die Deutschen ihre Präsenz zunächst konsolidieren. Dagegen wurde die latente Bedrohung der Partisanenbewegung für die deutsche Besatzungsherrschaft in immer mehr Regionen des ländlichen Raums zu einem Problem. 

Auf diesen Kontrollverlust und den wachsenden Druck, den eigenen Ressourcenbedarf für die Kriegswirtschaft zu sichern, reagierten die Besatzer mit radikaler Verschärfung ihrer Gewalt: Die Partisanenbekämpfung wurde in immer weitere Teile des Landes getragen und immer mehr Dörfer, insbesondere entlang der wichtigen Bahnlinien, wurden niedergebrannt. Die Bevölkerung wurde misshandelt, ermordet oder verschleppt. Das Prinzip der „verbrannten Erde“ beziehungsweise der „toten Zonen“ wurde handlungsleitend; nichts und niemand sollte zurückbleiben, wenn die Deutschen einen Landstrich für eine Vergeltungsaktion auswählten. 

Der zentrale Gedenkort für die „verbrannten Dörfer“ von Belarus befindet sich in Chatyn. Die Skulptur zeigt einen der wenigen Überlebenden von Chatyn: der Schmied Iosif Kaminski, der seinen toten Sohn Adam auf den Armen trägt / Foto © Stiftung Denkmal der ermordeten Juden Europas

Insgesamt forderte die deutsche Besatzung in Belarus schätzungsweise über 2,3 Millionen Menschenleben, darunter etwa 1,5 Millionen nicht-jüdische und 800000 jüdische Zivilisten und Zivilistinnen; die genauen Zahlen werden sich nicht mehr ermitteln lassen.4 Die Verbrechen der deutschen Besatzungsmacht in Belarus wurden von allen vor Ort präsenten bewaffneten Formationen begangen: von den Einsatzkommandos der Sicherheitspolizei und des SD (Sicherheitsdienst der SS), den Polizeikräften der Höheren SS- und Polizeiführer, der Wehrmacht und der Waffen-SS sowie Kollaborateuren in sogenannten Schutzmannschaften. 

Die Besatzungspolitik hinterließ ein furchtbar zerstörtes Land, Millionen Tote und ein tiefes Trauma in der belarusischen Gesellschaft. Zum starken Symbol für Erinnern und Gedenken an Krieg und Besatzung wurde in der belarusischen Erinnerungskultur das „verbrannte Dorf“. Es bildete in der belarusischen Geschichts- und Erinnerungskultur – neben dem Widerstand der Partisanen – einen zentralen Topos. Das Schicksal der jüdischen Bevölkerung in Belarus – der Holocaust – wurde dagegen zunächst unter die Verbrechen gegen die sowjetische Zivilbevölkerung subsummiert und blieb lange Zeit kaum sichtbar. 

International bekannt wurde das Schicksal der „verbrannten Dörfer“ zunächst durch den Film Komm und sieh von Elem Klimov (1985), der als meisterlicher Antikriegsfilm gilt.5  Literarische Vorlagen waren die Werke von Ales Adamowitsch, darunter Die Erzählung von Chatyn (1971) sowie Feuerdörfer (1975), das erstmals überhaupt Erinnerungen von Überlebenden der verbrannten Dörfer versammelte und der belarusischen Öffentlichkeit zugänglich machte – ein beeindruckendes Oral History-Projekt, das die Geschichten dieser Dörfer sowie das Leben und Sterben unter der Besatzung dokumentierte.

Adamowitschs Oral History-Projekt auf einer Karte: An den rot markierten Punkten besuchte der Schriftsteller in den 1970er Jahren die Überreste von verbrannten Dörfern, machte Überlebende ausfindig und schrieb ihre Erinnerungen auf.  

Das Ausmaß der Gewalt (er)messen 

Um die Berichte der Überlebenden zusammenzutragen, hatte das Team um Ales Adamowitsch zwischen 1970 und 1973 schließlich 147 Dörfer besucht. Dabei wurden nicht nur Interviews mit Überlebenden geführt. Das Team besuchte auch die nicht wieder aufgebauten Dörfer, über die kaum jemand mehr berichten konnte, beziehungsweise deren Gedenkorte. Nach allem, was bekannt ist, lässt sich vermuten, dass die Auswahl der Stationen in Zusammenarbeit mit lokalen Funktionären erfolgte, die womöglich auch beeinflussten, welche Geschichten erzählt werden sollten. Denn es fällt auf, dass der Holocaust in den Erzählungen weitgehend fehlt. Das spiegelt die Prioritäten der damaligen sowjetischen Erinnerungskultur wider. Adamowitschs Werk hatte gleichwohl großen Einfluss auf die lokale Gedenkkultur, die immer mehr zerstörte Orte identifizierte und in die Erinnerungsarbeit einbezog.6  

Für die heutige Forschung leisten die damals gesammelten Daten und Berichte noch immer einen wichtigen und bemerkenswerten Beitrag. Auch wir haben sie in ein Forschungsprojekt einbezogen, das die NS-Verbrechen während der Besatzungsherrschaft in Belarus in ihrer gewaltigen Dimension genauer als bisher nachzeichnen soll – mittels datengetriebener Geschichtswissenschaft. Dafür haben wir einen Datensatz aufgegriffen und analysiert, der vom Belarussischen Nationalarchiv stammt und die Vernichtung von mehr als 9.258 Dörfern, Siedlungen und Kleinstädten in Belarus zwischen 1941 und 1944 dokumentiert.7  

Das Ergebnis war eine umfassende und detailreiche Kartierung des Vernichtungskrieges in Belarus, in die sich die von Ales Adamowitsch gesammelten Erinnerungen und Augenzeugenberichte aus rund 100 „Feuerdörfern“ einordnen lassen.8 Die Zeugnisse über die mörderische Besatzungsgewalt aus Adamowitschs Werk ergänzen die Daten um die Stimmen von Menschen, die das Inferno nur knapp überlebt haben, so wie Palikarp Schakunow aus Krasniza: 

Und als sie dann die dritte Granate geworfen hatten, als die losgegangen war, da war es aus, Stille. Wie der Rauch ein bisschen verweht war, kommt einer rein, Deutscher oder Palizaj, und kontrolliert jeden. Und hilft mit dem Gewehr nach. Diesen Jungen, er lebte noch, zog er ein bisschen, er blinzelte, da erschoss er ihn, aber sein Kopf war weiter oben als meiner, deshalb ging es mir nur durch die Mütze. Mich selber hat es nicht erwischt. Aus dieser Gruppe waren nur zweie unverletzt, ich war auch unverletzt, das ist ja keine Verletzung, wenn es durch die Mütze geht und dir nur die Haare ausreißt. Ja, und zweie waren verwundet. Die anderen aus der Gruppe waren alle tot. So vierzig, fünfzig Mann werden es gewesen sein, genau sagen kann ich es nicht. 

Das deutsche Gewalthandeln gegen die belarusische Zivilbevölkerung wird so in seinen Dimensionen vermessbar und zugleich ganz unmittelbar greifbar: das gemeinsame Lesen von nüchternen Daten und Zahlen und der eindringlichen Schilderungen all jener, die dieses Grauen erlebt und gesehen haben, lässt die Dimension des Vernichtungskrieges erahnen. Die Politik der „verbrannten Dörfer“ eskalierte vor allem in den letzten beiden Jahren des Krieges bzw. der deutschen Besatzung in Belarus. Wie das Ausmaß der Gewalt vor allem 1943 und 1944 eskalierte, verdeutlicht die Auswertung von 6585 Datensätzen, bei denen sich die Zerstörung eines Dorfes exakt datieren und beziffern lässt (Tabelle). 

Jahr Anzahl der vernichteten Dörfer und Ortschaften  Grad der Zerstörung  
1941 211 84 Prozent 
1942 733 91 Prozent 
1943 3970 90 Prozent 
1944 1671 78 Prozent 
Summe 6585  

Der ausgewertete Datensatz umfasst alle Dörfer, deren Zerstörung während der deutschen Besatzung zwischen 1941 und 1944 aktenkundig geworden ist. Die meisten Siedlungen hatten weniger als 200 Gebäude, wobei kleinere Dörfer oft vollständig, größere Ortschaften tendenziell eher teilweise vernichtet wurden. Am schlimmsten war es 1943/1944. 
Räumlich fokussierte sich die Zerstörung auf die von Partisanen kontrollierten Gebiete, auf das Umland von Eisenbahntrassen sowie auf von der Wehrmacht 1944 geräumte östliche Landesteile. Die Animation zeigt die Zerstörung von Siedlungen, Dörfern und Kleinstädten 

Die Daten belegen vier Kontexte des deutschen Vernichtungshandelns: (1) Zerstörung und Mord während der Eroberung und Herrschaftskonsolidierung; (2) die Vernichtung von Dörfern in begrenzten Einzelaktionen; (3) die Verwüstung ganzer Landstriche beim Rückzug („verbrannte Erde“) sowie (4) flächendeckende Mord-, Zerstörungs- und Plünderungskampagnen im Rahmen der sogenannten Partisanenbekämpfung.  

Zur letztgenannten Kategorie gehörte beispielsweise das Unternehmen „Hornung“ im Februar 1943, das die Dörfer in den Rajons Salihorsk und Shytkawitschy nahezu vollständig auslöschte. Die Zahl der Todesopfer in den zerstörten Ortschaften wird auf etwa 12000 Menschen geschätzt. In rund 68 Prozent der betroffenen Dörfer wurden mehr als die Hälfte der dort lebenden Menschen getötet. In einigen Fällen wurden über 90 Prozent der Bevölkerung ermordet, was die extreme Brutalität des deutschen Vorgehens verdeutlicht. 

Zwar sind nicht alle Informationen für jede Ortschaft in dem von uns ausgewerteten Datensatz vollständig verfügbar und tatsächlich basieren viele Angaben auf Schätzungen. Dennoch ist die Auswertung solcher systematisch zusammengestellter Datensätze eine einzigartige Grundlage, um die flächendeckende Zerstörung und die Muster der Gewalt gegen die Zivilbevölkerung im ländlichen Belarus unter deutscher Besatzung besser zu verstehen. Die Daten lassen uns auch besser verstehen, wie die Dörfer, die Adamowitsch für sein Buch ermitteln konnte und besucht hat, einen Querschnitt durch die Phasen und Gewaltmuster der deutschen Besatzungsherrschaft repräsentieren. Zwar lagen viele der besuchten Orte im Umland von Minsk und viele seiner Stationen in den sogenannten Partisanengebieten. Zugleich aber finden sich bei ihm Beispiele aus allen Landesteilen und aus allen Phasen der deutschen Besatzungsherrschaft über Belarus. 

So lässt sich sein Buch immer wieder als ein pars pro toto lesen: Die Berichte der von ihm interviewten Überlebenden erzählen stellvertretend auch das Schicksal vieler anderer ausgelöschter Dörfer. Adamowitsch gibt uns einen erschütternden Einblick in das Leid, das die deutsche Besatzung in Belarus verursacht und hinterlassen hat. An diese Erkenntnisse lässt sich weiter anknüpfen, um beispielsweise das Täterhandeln und die Auswirkungen der deutschen Besatzung auf die belarusische Gesellschaft weiter zu erforschen. Dafür gilt es, die Daten weiter zu präzisieren und zu vervollständigen, wobei insbesondere auch die systematische Auswertung von Aktenbeständen in deutschen Archiven eine wichtige Rolle spielen kann. 

„Partisanenjagd“. Deutsche in Winteruniformen bei einem Überfall auf Partisanen. Im Hintergrund wird ein Dorfhaus in Brand gesetzt. Region Witebsk, Belarus, Winter 1941-42 / Foto © Arthur Bondar Privatsammlung 
Was die Daten zeigen: Die ausgewählten Dörfer, die Adamowitsch besuchte (rote Punkte), können stellvertretend für die vielen anderen, ebenfalls ausgelöschten Dörfer stehen (blaue Punkte). 

Das museale Erinnern an die „verbrannten Dörfer“ – früher und heute 

Neben dem Buch von Ales Adamowitsch haben wir in unserer Analyse auch die Liste der Orte berücksichtigt, die sich in der zentralen Gedenk- und Erinnerungsstätte von Belarus für die „verbrannten Dörfer“ befindet: in Chatyn. Die Gedenkstätte wurde am 5. Juli 1969 eingeweiht. Das Dorf Chatyn wurde am 22. März 1943 ausgelöscht, fast alle Bewohnerinnen und Bewohner wurden ermordet. Die Gedenkstätte bildet den Grundriss des früheren Dorfes nach: Im Mittelpunkt steht die Skulptur des „unbeugsamen Menschen“, der seinen ermordeten Sohn auf seinen Armen trägt. Es stellt den Überlebenden Iosif Kaminski dar. Zwei weitere Elemente erinnern an die anderen vernichteten Orte. Das ist zum einen der „Friedhof der verbrannten Dörfer“, ein Gräberfeld, das alle nicht wieder aufgebauten Orte symbolisiert. Komplementär sind die „Bäume der wiederaufgebauten Dörfer“ gestaltet, die 433 weitere Dörfer repräsentieren, die in der Nachkriegszeit neu errichtet wurden.9  

Zum 20. Jahrestag der Befreiung von Belarus dokumentierte in den 1960er Jahren die Quellensammlung „Verbrechen der deutsch-faschistischen Besatzer in Belarus 1941–1944“ erstmals öffentlich und systematisch das Ausmaß der Zerstörung, die Zahl der Opfer und die Erfahrungen der Besatzungszeit. Im gleichen Zeitraum entstanden, neben Chatyn, zahlreiche weitere kleinere Mahn- und Denkmäler, die an die Zerstörung von Dörfern erinnerten. 

Inzwischen sind die verbrannten Dörfer auch museal sehr präsent: Im neuen Gebäude des Museums des Großen Vaterländischen Krieges in Minsk, das im Jahr 2014 eingeweiht wurde, eröffnet eine Szene aus Komm und sieh den Ausstellungsabschnitt über das „Nationalsozialistische Besatzungsregime in Belarus 1941–1944“. Zum 80. Jahrestag der Vernichtung des Dorfes Chatyn wurde 2023 in der dortigen Gedenkstätte zudem ein ganz neues Museum eingerichtet – das allerdings auch die aktuelle Deutung des Zweiten Weltkriegs in Belarus mit ihren politischen Überformungen repräsentiert.10


Anmerkung der Redaktion: 

Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.


Zum Weiterlesen:  

Adamowitsch, Ales (1971): Chatynskaja apowesc, Minsk. 

Adamowitsch, Ales (1982): Henkersknechte. Das Glück des Messers oder Lebensbeschreibungen von Hyperboreern, Berlin. 

Adamowitsch, Ales /Bryl, Janka/Kolesnik, Wladimir (1980): Out of the fire, Moskau. 

Chiari, Bernhard (1998): Alltag hinter der Front. Besatzung, Kollaboration und Widerstand in Weißrussland, Düsseldorf. 

Dalhouski, Aliaksandr/Hennies, Lukas/Rass, Christoph (2024): „Bandenbekämpfung“ und „Verbrannte Dörfer“. Perspektiven der digitalen Geschichtswissenschaft auf Vernichtungskrieg und Besatzung in Belarus 1941– 1944. In: Wieler, Florian/Bonnesoeur, Florian (Hrsg.): Verbrannte Dörfer. Nationalsozialistische Verbrechen an der ländlichen Bevölkerung in Polen und der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg, Berlin. 

Gerlach, Christian (1999): Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrussland 1941 bis 1944, Hamburg. 

Heer, Hannes (1999): Tote Zonen. Die deutsche Wehrmacht an der Ostfront, Hamburg. 

Kirillowa, Natalia/Selemenew, Wjatscheslaw  (2011) (Hrsg.): Tragedija belorusskih derevenʼ 1941–1944. Dokumenty i materialy, Minsk/Moskau. 

Lehnstaedt, Stephan (2010): Okkupation im Osten. Besatzeralltag in Warschau und Minsk 1939–1944, München. 

Nationalarchiv der Republik Belarus (2014) (Hrsg.): Chatynʼ. Tragedija i pamjatʼ [Chatyn. Tragödie und Erinnerung. Dokumente und Materialien], Minsk 2014. 

Pohl, Dieter (2008): Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941–1944, München. 

Beorn, Waitman Wade (2014): Marching into Darkness. The Wehrmacht and the Holocaust in Belarus, Cambridge. 


    Fußnoten

    Die Erstausgabe 1975 auf belarusisch erschien unter dem Titel „Ja s wohnennai wjoski“ (dt. „Ich komme aus dem Feuerdorf“) bei Mastazkaja litaratura, Minsk.

    Vgl. Informationsbroschüre des Belarusischen staatlichen Museums für die Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges, Minsk 2018. 

    Ein Strukturmerkmal der deutschen Besatzungsherrschaft in Belarus bestand darin, das Land administrativ in unterschiedliche Verwaltungsgebiete bzw. Besatzungszonen aufzuteilen: Es gab das Generalkommissariat Weißruthenien sowie das Rückwärtige Heeresgebiet der Heeresgruppe Mitte und angrenzende Gebiete. Diese  wurden jeweils von verschiedenen Institutionen des NS-Machtapparates kontrolliert, darunter SS- und Polizeiverbände, Wehrmacht und zivile Verwaltungseinheiten. 

    Die genannten Zahlen stammen aus der Ausstellung (Halle 6: Die national-sozialistische Besatzung in Belarus 1941–1944) des Museums für den Großen Vaterländischen Krieges in Minsk zu sehen. 

    Vgl. Elem Klimov, Komm und sieh. 1985. [URL: https://www.imdb.com/title/tt0091251/?ref_=ext_shr_lnk. Stand: 18.12.2021].

    Schließlich fanden die „verbrannten Dörfer“ auch Eingang in die Chronik Pamjat’ (dt. Erinnerung), deren Bände von 1985 bis 2015 erschienen. Erst dadurch entstand ein dichtes Bild davon, wie die Menschen in Belarus der Gewalt der Besatzung zum Opfer gefallen waren.

    Vgl. Nationalarchiv der Republik Belarus, Belorusskie derevni, sožžënnye v gody Velikoj Otečestvennoj vojny [URL: http://db.narb.by/search/. Stand: 15.10.2024]. Als Grundlage für diese Datenbank diente das Buch „NS-Politik des Völkermords und der verbrannten Erde“, in dem 1984 erstmals die Liste der verbrannten belarusischen Dörfer veröffentlicht wurde. Vgl. Institut istorii partii pri CK KPB, Otdel naučnoj informacii po obščestvennym naukam AN BSSR (Hrsg.), Nacistskaja politika genocida.

    Aus der Veröffentlichung von Ales Adamovich/Yanka Bryl/Vladimir Kolesnik, Out of the fire, Moskau 1980.

    Vgl. Nationalarchiv der Republik Belarus (Hrsg.), Chatynʼ. Tragedija i pamjatʼ [Chatyn. Tragödie und Erinnerung. Dokumente und Materialien], Minsk 2014, S. 4 f.

    Beispielhaft: Lukaschenkas Rede zum 80. Jahrestag der Vernichtung von Chatyn: https://www.youtube.com/watch?v=h6EZRucMwEE