Pommes de terre

Mariya Lappo ist eine belarussische Autorin, Journalistin und Literaturwissenschaftlerin, die zu den Werken des Schriftstellers Uladsimir Karatkewitsch forscht. Zudem ist sie eine erfolgreiche Podcasterin. Ihre Sendung Kalja lіtaratury (dt. Neben der Literatur) erscheint regelmäßig auf Litradio, einem der wichtigsten belarussischen Literaturportals auf YouTube. Als Schriftstellerin oder Dichterin könne sie sich nicht bezeichnen, schrieb sie in einer Auskunft zu einer Autorenresidenz, die sie 2014 vom PENBelarus in Minsk erhielt. „All diese Wörter wirken auf mich wie schulterfreie Kleider, die mir entweder zu klein oder zu groß sind, während das Wort Essayistin ein Wort ist, das ich bereit bin, selbst anzuprobieren.“ Im selben Jahr erschien im Lohvinaŭ Verlag mit dem Band Kontinuum (russ. Sploschnaja sreda) ihr Debüt als Prosa-Autorin. „Ein paar Texte, die Gedichte sein wollten, aber nicht standgehalten haben und zu Erzählungen wurden.“ Diesen Gedanken stellt sie den fünf Erzählungen in ihrem Buch voran.
Einer der versammelten Texte, die zwischen Poesie und Prosa hin und her mäandern, ist Pommes de terre. Im Original heißt er Dorogije radiosluschateli (dt. Liebe Hörerinnen und Hörer). Die Kartoffel (belaruss. bulba) ist in Form des Kartoffelsacks ein Leitmotiv in diesem Text. Die Erdfrucht und Speisen auf Basis der Kartoffel haben die belarussische Küche stark geprägt. Entsprechend taucht sie auch immer wieder als Reminiszenz in kulturellen Bezügen auf, aus denen beispielsweise eine angebliche Erdverbundenheit und Bodenständigkeit der Belarussen abgeleitet oder ihnen eine gewisse Sturheit und Kleingeistigkeit unterstellt wird. Bulbaschy, Kartoffelmenschen, ist eine ironische, liebevolle Selbstbezeichnung für die Belarussen.
Irina Bondas hat die Erzählung aus dem Russischen ins Deutsche übersetzt
Sollen doch muslimische Frauen in Paris in Burkas herumlaufen und ihre Gesichter dahinter verbergen, wir brauchen uns nicht in Burkas zu verstecken, schließlich haben wir wunderbare geräumige Kartoffelsäcke, die sich außerordentlich bequem über den Kopf ziehen lassen.
Und während Burkas diejenigen, die sie tragen, kein bisschen glücklicher machen, bringen unsere Säcke ihren Besitzerinnen und Besitzern ausnahmslos Glückseligkeit. Nicht nur, weil es ein kultiger Modetrend ist oder Sie unabhängig vom Modell, keinen einzigen Rubel ausgeben müssen (findet sich doch in jedem Haushalt ein Kartoffelsack), sondern vor allem, weil ein Kartoffelsack wesentlich besser schützt als eine Burka. Lässt doch eine Burka die Augen frei,
durch die alles Mögliche nach innen gelangen,
direkt ins Herz fallen
und es so aufwühlen kann,
dass es sinkt,
als ob es am 11. September aus der Höhe des New Yorker Wolkenkratzers fällt,
und danach wieder bis zum 85. Stockwerk hochfährt
und wieder sinkt
und im Anschluss wieder hochfährt.
So geht das, bis Sie einen Herzanfall bekommen.
Steckt Ihr Kopf hingegen in einem Kartoffelsack, kann weder durch die Augen noch durch die Ohren oder irgendwelche anderen Öffnungen im Kopf irgendetwas zu Ihrem Herzen dringen und Sie werden endlich Glückseligkeit, Harmonie und Ruhe finden
und alles um Sie herum findet seinen Platz.
Alles bleibt an seinem Platz.
Die Leute müllen die Straße zu, die Straßenkehrer fegen sie wieder sauber; jemand schmeißt sich aus dem Fenster, der Rettungsdienst kommt; druckfrische Zeitungen werden an den Kiosk geliefert, es bildet sich eine Schlange; Schnee fällt, der Winterdienst fängt an zu räumen; ein Gesetz wird gebrochen, die Gefangenentransporter bringen den Gesetzesbrecher ins Gefängnis.
Und das Leben geht unbemerkt seinen Gang, entfaltet sich, dreht Kreise und Spiralen. Die Bäume drehen ihre Äste zum Himmel, die Blumen auf den Fensterbänken drehen ihre Stiele zum Himmel und versuchen dabei, das Fensterglas herauszudrücken, Haare drehen sich in Locken auf den Köpfen, der Rauch in kleinen Ringen aus den Pfeifen.
Ökonomen zählen Geld, Politiker würgen einander im Namen einer leuchtenden Zukunft, Friseurinnen schneiden tonnenweise Haare ab, Anwälte vertreten tausende Angeklagte, Priester beten in Kirchen, Zugführer schicken hunderte Züge über die Gleise, Schneider schneidern Millionen neuer Anzüge, Bäcker verkaufen Trillionen Kilogramm Brot, Komponisten komponieren tausende Lieder, Verräter verraten, Freunde pflegen ihre Freundschaften, Liebhaber lieben und im Radio predigt der Sender Stimmen der Zukunft von Belarus, wie alles an seinem Platz ist, weswegen jeder von uns unbedingt seinen Platz kennen muss.
Wenn sich Ihr Kopf wiederum außerhalb des Kartoffelsacks befindet, beispielsweise unter einer Burka, kann das alles auf den Kopf stellen, durcheinanderbringen und alles kann den Bach runtergehen: Der Ökonom beäugt den Straßenkehrer so lange, bis er selbst Straßenkehrer werden will, der Straßenkehrer seinerseits beäugt einen Manager, bis er am Ende selbst Manager werden will, woraufhin ein endloser Ausnahmezustand und präapokalyptische Anarchie ausbricht.
Die Burka ist also aufgrund ihrer übermäßigen Offenheit ungeheuer gefährlich, deswegen sind Muslime bei den Parisern unbeliebt, nachdem sie Paris so lange beäugt haben, bis sie angefangen haben, es zu bevölkern. Belarussen wiederum sind bei den Parisern sehr beliebt, weil sie diese wegen der Kartoffelsäcke auf ihren Köpfen nie zu Gesicht bekommen.
Auch Nina, die aus Kalinkawitschy nach Homel gezogen war, trägt einen Kartoffelsack auf dem Kopf und findet ihn ungemein praktisch, denn ihre Frisur, die sie ihr halbes Einkommen kostet, hält auf diese Art Wind und Regen stand, ihre Maniküre wird nicht beschädigt und die in Belarus hergestellte wasserdichte Wimperntusche verläuft nicht, wenn die vorbeifahrenden Autos sie mit Pfützenwasser bespritzen. Natürlich wissen Außenstehende nichts von diesen Vorteilen, aber dafür fühlt sich Nina mit dem Sack rundum wohl und behütet, nichts wühlt sie auf und alles war am rechten Platz.
Auch Anton, der aus Kalinkawitschy nach Homel gezogen ist, trägt einen Kartoffelsack auf dem Kopf, damit ist er vor dem Druck geschützt, sowohl von denen, die ihr Umfeld zwingen, Fleisch zu essen, und die Läden von Homel mit Fotos von rohen Schweinekeulen dekorieren, als auch von denen, den Menschen verbieten, Fleisch zu essen, und in Homel Cafés eröffnen, in denen es nichts gibt außer Saft in umweltfreundlich biologisch abbaubaren Bechern und Proteinkeksen von der Größe einer Streichholzschachtel.
Aber das Leben ist unvorhersehbar und jeden Moment kann alles Mögliche passieren. Einmal wollte Nina, die unbekümmert in ihrem Kartoffelsack lebte, sich neue Wimperntusche kaufen, und Anton, der ebenfalls zufrieden in seinem Kartoffelsack lebte, wollte Bier holen. Auf dem Weg zu ihren Zielen schauten sie nicht nach links und rechts, stießen zusammen, blieben mit ihren Kartoffelsäcken aneinander hängen und
fielen so um, dass
ihnen auch die Säcke von den Köpfen fielen
und Nina und Anton sahen einander und sofort
fielen ihre Herzen aus der Höhe des 85. Stockwerks der New Yorker Wolkenkratzer,
und fuhren wieder hoch,
und fielen wieder,
und damit das endlich aufhörte, griffen sich Nina und Anton ihre Säcke, nähten sie zusammen und schlüpften hinein.
Aber kaum waren sie zu zweit in einem Kartoffelsack, wurden sie drei, denn als Summe von Nina und Anton kommt Antonina raus, das ist die Mathematik des Lebens.
Natürlich versetzte ihnen der Zuwachs einer physischen Einheit in ihrem Sack einen Schock, warf sie aus der Bahn und unter die Räder, aber da außerhalb des Kartoffelsacks alles weiterhin an seinem Platz war, mussten Nina und Anton das Rad nicht neu erfinden. Und so machten die Kinderbetreuerinnen sich daran, Antonina zu betreuen, die Friseurinnen, ihr die Haare zu schneiden, die Lehrer, sie zu unterrichten, die Schneiderinnen, ihr Kleider zu nähen, die Schwimmlehrertrainer, ihr schwimmen beizubringen, und der Radiosender Stimmen der Zukunft von Belarus sie über kulturelle und klimatische Veränderungen aufzuklären.
Antonina wurde ruckzuck groß und es kam die Zeit, da es den dreien in einem Kartoffelsack entschieden zu eng wurde, und Anton und Nina mussten feststellen, dass es an der Zeit war, sich Antonina vom Hals zu schaffen und sie am besten an den Hals eines Mannes mit einem geräumigen Kartoffelsack, eigenem Wohnraum und Auto zu werfen.
Aber Antonina, die das Getuschel von Anton und Nina gehört und ihre schiefen Blicke in ihrem Taschenspiegel erblickt hatte, ließ es nicht erst darauf ankommen und sprang selbst aus dem Sack.
„Ich bin frei!“, rief Antonina und glaubte in dem Moment wie Shiva mit einer Million Arme, Beine und Augen zu sein. „Ich bin frei! Ich kann alles hören und sehen!“
Aber das Einzige, was sie sah und hörte, waren ein Poet, der zur Inspiration angetrunken auf dem Platz einem imaginären Volk Gedichte vortrug und ein Revolutionär, der im Protest gegen eine imaginäre Regierung mit einem Plakat dastand – aber das Volk oder die Regierung konnte Antonina nirgendwo sehen, obwohl sie im Fernsehen immer nur das Volk und die Regierung gesehen hatte, aber Dichter oder Revolutionäre hatte sie nie gesehen.
„Ich bin frei! Ich bin frei!“, rief Antonina und rannte los. Und um ihren Worten auch Taten folgen zu lassen und ihre Freiheit zu demonstrieren, zog sie bei jeder erstbesten Gelegenheit einen Joint durch, gab sich die Kante und warf sich Typen nicht etwa für Wohnraum an den Hals, sondern bereits für einen Schokoriegel der Marke Aljonka und eine Flasche halbtrockenen belarussischen Wein der Marke Herbstsonate.
So brachte Antonina es ruckzuck bis zur Suchtklinik, wo ihr ein neuer Rettungskartoffelsack über den Kopf gezogen wurde. So bekam sie einen eigenen Kartoffelsack und Anton und Nina hatten sie sich vom Hals geschafft und waren wieder zu zweit.
Aber die Leere, die nach Antoninas Auszug entstand, vergrößerte den Abstand zwischen Anton und Nina derart, dass sie immer weiter auseinanderdrifteten, bis sie einander komplett aus den Augen verloren.
„Anton“, sagte Nina schließlich in die Leere des Kartoffelsacks hinein, weil sie Anton nicht mehr sah, sondern nur noch einen fremden Umriss fern am Horizont ausmachen konnte.
„Ich glaube, unser Sack ist ganz ausgeleiert. Vielleicht sollten wir mal raus und Antonina suchen?“
„Geht’s noch?!“, schnauzte Anton sie an. „Fahren wir nach Kalinkawitschy, ich habe noch einen Haufen leerer Kartoffelsäcke in allen möglichen Größen und 1A Zustand im Keller.“
Und sie fuhren von Homel nach Kalinkawitschy, wo sie tatsächlich einen gemütlichen Kartoffelsack fanden, in dem alles wieder seinen Platz fand.
Die Geranie stand an ihrem Platz auf der Fensterbank, das Fahrrad der Marke Storch zerlegt vor dem Hauseingang, das Frühstück pünktlich um 8 Uhr morgens und das Mittagessen um 13 Uhr auf dem Tisch. Am wichtigsten aber war, dass das Radio, aus dem der Sender Stimmen von Belarus schallte, an seinem Platz auf dem Kühlschrank der Marke Minsk Atlant stand. Nina war an ihrem Platz, brutzelte stapelweise Eierkuchen//Bliny, strickte Schals für Anton und schmökerte mit beseeltem Gesichtsausdruck in einem Gedichtband von Achmatowa. Anton war ebenfalls an seinem Platz, mit der Angel am See oder unter dem Auto der Marke Moskwitsch und hatte einen nicht weniger beseelten Gesichtsausdruck als Nina.
So vergingen dreihundertvierzig Jahre. Dreihundertvierzig Jahre später hörte Nina Radio, während sie stapelweise Eierkuchen brutzelte und Anton neben ihr Pfeife rauchte. Alles war an seinem Platz.
„Guten Tag, liebe Freunde. Wie gewohnt stellen wir euch die wichtigsten Nachrichten aus Winkeln von Belarus und der Welt im Überblick vor. Heute ist uns wieder eine Hörerin zugeschaltet. Die junge Frau mit dem zauberhaften Namen Antonina befindet sich bedauerlicherweise im Ausland und hat große Sehnsucht nach der Heimat und ihren Eltern. Antonina, bitte!“
Da zog Anton so heftig an seiner Pfeife, dass der Rauch, den er ausblies, Nina in eine so riesige Rauchwolke hüllte wie die größten Stars des Festivals Slawischer Basar. Deswegen konnte Anton auch nicht sehen, wie Nina emsig den Teig bearbeitet, sodass er hart wird wie Zement, an dem sie ihre Knöchel blutig schlägt, ohne es zu merken.
„Guten Tag, liebe Hörerinnen und Hörer. Ich heiße Antonina. Ich wohne in Paris und arbeite als Krankenschwester in der Notaufnahme. Heute habe ich eine muslimische Frau reanimiert, die wegen Überhitzung einen Herzanfall hatte. Aber in Wirklichkeit hatte sie den Herzanfall aus einem anderen Grund: weil sie eine Burka trug. Eine Burka ist nämlich sehr gefährlich, weil sie die Augen frei lässt, durch die jeder Schrott ins Innere gelangen, bis zum Herzen absinken und einen Herzanfall auslösen kann. Deswegen mein Rat an Sie: Tragen Sie lieber Kartoffelsäcke, dann bleiben Ihre Herzen unversehrt und nichts wird Sie bis zum Herzanfall aufwühlen. Außerdem möchte ich meine Eltern in Kalinkawitschy grüßen, die mir von klein auf diese unschätzbare Weisheit vermittelt haben und auf die ich leider nicht gehört habe. Deswegen trennen uns jetzt dreihundertvierzig Jahre und viertausend Kilometer.“
Und nach diesen Worten ließ Nina den Kopf in die Hände fallen und schluchzte so bitterlich, dass ihr Kartoffelsack vor Nässe beinahe an den Nähten aufgegangen wäre.
Am nächsten Tag verschrottete Anton das Radio, denn alles hat seinen Platz. Und der rechte Platz für dieses alte unnütze Radio ist der Müll.
Die Veröffentlichung im Rahmen des dekoder-Specials Durch die Nacht, durch den Sturm – Literatur aus Belarus entstand mit freundlicher Unterstützung der S. Fischer Stiftung.