Zuhause

Michas Stralzou
Text: Michas StralzouÜbersetzung: Tina WünschmannTitelbild: Anonym04.01.2024

Michas Stralzou (1937–1987) war ein belarussisch-sowjetischer Lyriker, Prosaautor und Übersetzer. Als einer der wichtigsten Vertreter der Nachkriegsliteraten seiner Heimat, auch „philologische Generation” oder „vaterlose Generation” genannt, setzte er sich mit der Kindheit im Krieg und dem Umzug des erwachsenen Dorfkinds in die Stadt auseinander. Denn die Belarussische SSR erlebte nach dem Zweiten Weltkrieg eine starke Urbanisierung, während derer die Menschen in dem ursprünglich stark landwirtschaftlich geprägten Land in die Städte gingen, wo es Arbeitsplätze gab und sozialer Aufstieg möglich war. 

Stralzou prägte den Ausdruck „Heu auf dem Asphalt” für die Erinnerung an das Leben im Dorf. Nach ihm und diesem Zitat ist auch ein Lyrikfestival benannt: Gedichte auf dem Asphalt (belaruss. Mishnarodny paetytschny festywal Werschy na asfalze pamjazi Michassja Stralzowa). Mit der Kurzgeschichte Zuhause debütierte er 1957, sie erschien in der Zeitschrift Maladosz (dt. Jugend).

Durch den langen, niedrigen Hof liefen sie zum Heuschuppen. Szjapan hob den Haken aus der Öse, und das Tor öffnete sich knarrend. Aus dem Schuppen drang der kräftige, Szjapan so vertraute Geruch von feuchter Erde und frischem Heu. Er holte die Schachtel aus der Hosentasche und riss vorsichtig ein Streichholz an.

„He, Szjopa“, sagte die Schwester tadelnd und blies das Flämmchen aus. „Du weißt doch: Papa. Er hat darum gebeten …“
Es war wieder finster. Szjapan lächelte. ‚Wie groß sie doch geworden ist. Eine Neuntklässlerin!‘
Schon zwei Jahre war er nicht mehr zu Hause gewesen. Als er das Dorf zum letzten Mal verlassen hatte, war die Schwester fast noch ein Kind gewesen; er erinnerte sich sogar daran, wie sie beim Hausaufgaben machen oftmals weinte. Und nun war sie schon fast eine Braut. Nach dem kurzen Aufleuchten des Streichholzes war es nun noch dunkler geworden. Szjapan sah nichts.
„Hierher“, flüsterte die Schwester, „findest du etwa den Weg nicht mehr?“ Szjapan streckte die Hände in die Dunkelheit aus und folgte ihr.
Über die Leiter kletterten sie nach oben. Schon beim ersten Schritt gab das Heu unter seinen Füßen raschelnd nach – er konnte sich nicht halten und fiel hin. Die Schwester lachte auf. Und auch ihm war plötzlich froh und wohl zumute.
„Wie schön, Nina, nicht wahr?“ Er atmete ganz tief aus und grub sich in das weiche, duftende Heu. 
„Ja, wirklich schön“, antwortete Nina lebhaft. „Ich wollte schon vor den Prüfungen hier oben schlafen, aber Mama hat es nicht erlaubt. Sie hat Angst, dass ich dann zu spät aus dem Dorf heimkomme.“
„Recht hat sie. Vermutlich gehst du schon längst zum Tanz … Und bekommst Briefchen im Unterricht … Oder etwa nicht?“ Die Stimme des Bruders klang verschmitzt und zärtlich.
Nina antwortete mit gespieltem Unmut: „Was seid ihr Lehrer doch miesepetrig und boshaft. Früher habe ich immer gedacht, ihr wäret nicht wie alle anderen … Na, schlaf jetzt, du Spinner, ich gehe.“
Szjapan musste lachen.

Als Nina fort war, zog er sich aus und legte sich hin. Es verlangte ihn zu rauchen. Er erinnerte sich an die Ermahnung der Schwester, schmunzelte und zündete sich eine Zigarette an. Das Streichholz zerdrückte er zwischen den Fingern und warf es weit von sich. ‚Damit es der Vater später nicht entdeckt.‘
Er lag da und dachte nach. Es war still, von unten war nur das unregelmäßige Schnauben der Kuh zu hören, und ganz nah an seinem Ohr summte eine Mücke. An einer Stelle leuchtete der Himmel durch das Dach hinein, und Szjapan schaute lange dort hinauf, bis ganz in der Nähe plötzlich eine Harmonika erklang und der Gesang einer hohen, schönen Mädchenstimme sein Ohr erreichte. Szjapan fuhr hoch. Etwas regte sich, kitzelte in seinem Inneren, und er spürte, wie eine unerklärliche Freude ihn erfüllte. Er konnte nicht mehr stillliegen, musste sich bewegen. ‚Was ist das nur‘, dachte er, ‚das mich so unruhig macht?‘ Und dann verstand er plötzlich: ‚Ich bin zu Hause! Wie konnte ich das nicht erraten? Ich bin zu Hause!‘

Die Harmonika spielte und spielte, und die Mädchenstimme sang von Liebenden, die nie auseinandergingen, von einem taufeuchten Pfad im Getreidefeld und Nebel über dem Fluss … 
Szjapan dachte daran, wie er sich in der achten Klasse in Kazja verliebt hatte, ein lebhaftes, dünnes Mädchen mit blonden Zöpfen, und wie lachhaft eifersüchtig er wegen ihr auf seinen Schulfreund Uladsik gewesen war, einen nachdenklichen und für sein Alter ungewöhnlich reifen Jungen. Selbst wenn seine Mutter etwas sagte oder tat, das ihm nicht passte, sprach er ganz wie ein richtiger Mann: „Typisch Frau.“ Uladsik wuchs ohne Vater auf. Abgesehen von Kazja war er mit keinem Mädchen aus der Klasse befreundet. Zu dritt zogen sie oft außerhalb des Dorfes umher, kletterten auf Weiden und sangen Lieder. Szjapan bereiteten diese Ausflüge allerdings nur wenig Freude. Uladsik rauchte damals schon und wenn er wieder einmal Zeitungspapier und eine Prise Tabak aus der Hosentasche holte, um sich eine Zigarette zu drehen, warnte er Kazja stets: „Aber zu niemandem ein Wort.“ Kazja antwortete jedes Mal gehorsam: „In Ordnung, Uladsik“, und seufzte aus unerfindlichem Grund. Szjapan aber beobachtete sie die ganze Zeit leidend und schwor sich jedes Mal aufs Neue, damit aufzuhören. Nach einiger Zeit begann er, ihr Zettelchen zu schreiben. Kazja tat so, als verstünde sie nichts, malte lustige Fratzen auf die Zettel und schickte sie Szjapan zurück.
 
So verging die Zeit. Sie beendeten die zehnte Klasse. Uladsik ging an die Militärhochschule. Kazja zog zu ihrer Schwester in die Stadt, und Szjapan sah sie nie mehr wieder. 
‚Wie lange das alles her ist‘, dachte er. ‚Wo Uladsik und Kazja jetzt wohl sind? Ach, wie dumm das ist: Ich weiß nicht einmal, wo sie leben.‘
Er machte sich Vorwürfe und wurde mit einem Mal traurig. Die frohe Laune war dahin. Andere, unangenehme Erinnerungen holten ihn ein. Er sah sich als Student, linkisch und schüchtern, der nichts mehr auf der Welt fürchtete, als lächerlich zu sein. Als Student hatte Szjapan eine Brille getragen und sich damit sehr unwohl gefühlt. Unter Menschen schwieg er die meiste Zeit, sah, dass er fehl am Platz und lächerlich wirkte, aber konnte nichts dagegen tun.
In den zwei Jahren, die seit dem Studium vergangen waren, hatte er als Lehrer im Dorf Alchouka in Polessien gearbeitet. Er hatte sich nie gefragt, ob ihm das Unterrichten gefiel oder nicht: Er bereitete sich auf die Stunden vor, hielt Vorträge im Kolchos, wenn er darum gebeten wurde, und langweilte sich abends in seiner Junggesellenwohnung – ihm schien es, als müsse das alles so sein. Er unterrichtete Literatur. Die Stunden verliefen ohne Zwischenfälle, die Schüler schienen ihn zu achten, aber er spürte: Um ihnen eine Autorität zu sein, fehlte ihm etwas. Aber was das war, wusste Szjapan nicht. 
Der Sommer hielt Einzug, die Prüfungen waren vorbei, und es ergab sich, dass Szjapan in Alchouka blieb. Er tröstete sich damit, dass das alles war, was er brauchte. Ab und an dachte er an die Stadt, die Hochschule, seine Freunde. Die ehemaligen Kommilitonen hatten schon längst Familien, und er hatte sich seit dem Studium nicht einmal verliebt. In solchen Momenten wurde ihm bitter ums Herz. 
Aber nun war Alchouka weit weg, er war zu Hause.

Die Harmonika war verstummt, und Szjapan konnte in der Stille deutlich hören, wie im Gebüsch hinter dem Heuschuppen das Pferd Gras rupfte und unter seinen Hufen der nasse Boden gluckste. Er drehte sich auf die andere Seite, schloss die Augen und versuchte, sich etwas Weißes und Weiches vorzustellen, wie es ihm die Mutter in der Kindheit beigebracht hatte, wenn er lange nicht einschlafen konnte. Aber der Schlaf wollte nicht kommen.
So lag er lange da, bis im Hof Schritte ertönten. Szjapan spitzte die Ohren: Wer konnte das sein?
„Bleib doch noch ein wenig, Nina!“, sagte jemand. Eine unbekannte Jungenstimme. Szjapan setzte sich auf und lauschte.
„Nicht so laut, sonst hört uns mein Bruder …“
Das war seine Schwester, ihre Stimme erkannte Szjapan sofort.
Jemand flüsterte hastig etwas, er konnte es nicht verstehen. 
„Ich muss gehen“, sagte Nina jetzt.
Dann wieder Getuschel, und darauf wieder deutlich die Stimme der Schwester: „Wer hat Wassil eigentlich erzählt, dass wir beide gestern auf der Hauptstraße spazieren waren?“
„Ich war das nicht, er hat es wohl selbst erraten.“
Dann herrschte Schweigen.
„Du willst mir nicht einmal dein Taschentuch geben“, hörte Szjapan einen Augenblick später den Jungen traurig sagen.
„Nein, das will ich nicht … Wenn das jemand sieht …“
„Niemand wird es sehen, ich trage es ein Weilchen bei mir, dann geb’ ich es zurück.“
‚Der Junge scheint anständig‘, dachte Szjapan. ‚Selbst wenn ich ihn jetzt sehen könnte, würde ich wohl nicht wissen, zu wem er gehört … Aber Nina! Wahrlich schon eine Neuntklässlerin!‘
„Komm, hör mit dem Taschentuch auf. Ich besticke eins, dann bekommst du es … Lass meine Hand los … Ich muss gehen …“
Sie flüsterten noch kurz, dann hörte Szjapan, wie die Schwester auf die Veranda lief und die Haustür öffnete.

‚Wahrlich schon eine Neuntklässlerin!‘, wiederholte er in Gedanken und wunderte sich, dass ihm auf einmal froh und wohl zumute war. ‚Seltsam! Ich habe nie auf der Veranda gestanden und niemandem meine Liebe gestanden …‘
Aber irgendwo in der Tiefe seines Herzens lebte die Gewissheit, dass er sich selbst betrog. Kazja erstand vor seinen Augen auf: Er dachte daran, dass sie damals, in der Schule, so alt gewesen war, wie seine Schwester jetzt. War das wirklich schon so lange her? ‚Ein dummer Strunk bist du‘, sagte er zu sich selbst. ‚Noch ist nichts verloren, alles liegt noch vor dir. Und du bläst hier Trübsal.‘ Er fasste sich wieder, etwas Warmes glitt zu seinem Herzen hinab und ergriff es sacht. Die Traurigkeit war verflogen.
Draußen auf der Stange schlug der Hahn mit den Flügeln und krähte kräftig. Von einem anderen Hof schallte es zurück, und bald breitete sich das muntere Hahnengeschrei über das ganze Dorf aus.
Wer wollte da noch schlafen.

(1956)