Traumwerke

Vera Burlak
Text: Vera BurlakÜbersetzung: Thomas WeilerTina WünschmannTitelbild: Katsiaryna Dubovik29.02.2024

Vera Burlak wurde 1977 in Kyjiw geboren. Sie ist eine der bekanntesten zeitgenössischen Dichterinnen aus Belarus und auf vielen künstlerischen Feldern unterwegs. Sie studierte in Minsk Russische Philologie, promovierte zur russischen Kinderliteratur der 1920er Jahre, studierte Klavier und spielte in Punk-Bands. Sie übersetzte Lewis Carroll ins Belarussische, inszenierte Theaterstücke und sie ist als Slam-Poetry-Performerin unterwegs. Aktuell lebt sie lebt im Exil in Stuttgart.

Der Prosaband Traumwerke (belaruss. Tvory sonnaha žanru), aus dem die folgenden Texte stammen, erschien 2011 im unabhängigen Verlag Lohvinau. Es ist vergleichbar mit einem Buch von Daniil Charms oder Christian Morgenstern, das man immer wieder zur Hand nehmen kann, um sich an den absurden Stücken zu erfreuen. Es sind Texte, die teilweise aus tatsächlichen Träumen entstanden. In diesen Miniaturstücken – mal Erzählungen, mal Kurzromane oder Novellen – zieht Vera Burlak den Leser in ihre Traumlabyrinthe, wo sie mit ihm nach allen übernatürlichen Regeln der Kunst und Sprache spielt. Die Autorin empfiehlt, das Buch unbedingt in der Minsker Metro zu lesen, wo die längste Fahrt 28 Minuten dauert.

Traumwerke

(Klappentext)

Folgender Traum. 
Zuerst muss man von einem 1 Meter hohen Turm springen. 
Ziemlich hoch, aber überraschend schmerzfrei für die Füße. 
Dann muss man von einem 3 Meter hohen Turm springen. 
Man kann auch nicht springen, aber dann bleibt nur eine weiße Wüste, 
deshalb hat man keine Wahl – man muss springen. 
Dann muss man von einem 9 Meter hohen Turm springen. 
Dann muss man von einem 27 Meter hohen Turm springen. 
Dann muss man von einem 81 Meter hohen Turm springen. 
Dann muss man von einem 243 Meter hohen Turm springen. 
Dann muss man von einem 729 Meter hohen Turm springen. 
Und so weiter. 
Ab einem bestimmten Punkt wird der Sprung zum Flug, 
in dem verschiedene Traumphasen einander ablösen. 
In der REM-Phase haben die Träume Inhalt und Form. 
Mitunter sind sie sehr kunstvoll. 
Sie gehören zur Gattung der Traumwerke.

Aus dem Belarussischen von Thomas Weiler

Allergie

Schon in früher Kindheit hatte ich eine furchtbare Schokoladenallergie. Ich war unsterblich schokoladenverliebt und beschaffte mir, ohne Ursache und Wirkung zusammenzubringen, die begehrte Leckerei, um anschließend tagelang zu fiebern und zu jucken. 
Im Kindergarten gab es ein Riesentrara wegen der Milch. Die halbe Gruppe bekam Durchfall, und für mich war dieses Erzeugnis so bekömmlich wie ungelöschter Kalk, es fand sich unweigerlich auf der Erzieherin, der Hortnerin, der Direktorin und auf jedem anderen wieder, der so verwegen war, es in mich hineinzufüllen. 
Später wurde ich allergisch gegen Apfelsinen, gegen Mandarinen, Erdbeeren, Aprikosen, Ananas, Pfirsiche, Äpfel, Tomaten, Zucchini, Kürbis und gegen sämtliche stationär wachsenden Pflanzen. Bald hatte ich auch die ambulanten Leckereien über, die bekamen mir ebenfalls nicht. 
Kaum hatte ich meinen ersten Edelstahlring übergestreift, juckte mein Finger. Bald juckte mein gesamter Körper und mir wurde klar, dass ich gegen Textilien allergisch war. 
Den ganzen Sommer darauf schniefte und triefte ich, weil alles ringsum blühte. 
Im Winter bekam ich eine Schneeallergie. 
Schließlich fand ich mich mit 17 Jahren nackt in einem abgeriegelten, halbdunklen Zimmerchen wieder, in das nicht einmal eine Stubenfliege eindringen konnte (gegen die war ich auch allergisch), in dem ich, halb weggetreten, auf dem blanken Boden sitzend an einer ungesalzenen Nudel nuckelte. Trotz meiner Nudelallergie. 
Um mich zu zerstreuen, ging ich ab und an zum Fenster, um mir die weite Welt anzusehen, und lugte vorsichtig durch die Gardinen. Die Welt war riesig und sie bescherte mir eine Bindehautentzündung. 
Einmal bekamen meine Eltern Besuch von einem Bekannten und dessen Sohn. Meine Eltern wussten, dass ich gegen sie allergisch war, sie kamen nicht in mein Zimmer. Aber der Sohn ihres Bekannten irrte sich in der Tür und, es klingt wirklich unglaublich, er verliebte sich in mich! 
Und ich verliebte mich in ihn. Sogar mein Schnupfen war plötzlich weg. Am nächsten Tag hörte das Jucken auf, dann trieften die Augen nicht mehr und ich konnte freier atmen. Nach einer Woche konnte ich mich schon anziehen und meine Eltern auf die Wangen küssen, als sie mir mitteilten, das Objekt meiner Träume sei im Anmarsch. Am Abend kam er dann und ich – oh Elend! – wäre beinahe erstickt. Sofort wurde der Notarzt gerufen, sie sperrten mich in mein Zimmer und entfernten meinen Geliebten aus der Wohnung. 
Dann brachten sie mich ins Krankenhaus, pumpten mich randvoll mit irgendwelchem Mist und packten mich in ein Spezialzimmer, wo ich ein bisschen zu mir kommen konnte. Am Abend kam die Visite. Ich brach in Tränen aus und fragte durchs Taschentuch: „Herr Doktor, was soll ich bloß tun?“ Der Doktor dachte nach und antwortete: „Du solltest in einem Glasbehälter sitzen und mit Stärke gefüttert werden. Bei absoluter Dunkelheit. Und keine Menschenseele in der Nähe. Du musst täglich gewaschen und rasiert werden wegen deiner Eigenhaarallergie.“ 
„O Gott“, entfuhr es mir. „Bin ich vielleicht auch noch gegen mich selbst allergisch?“ 
„Schwer zu sagen“, entgegnete der Arzt, er war ja nicht Gott. 
Wieder einmal fügte ich mich in mein Schicksal und zog in den Glasbehälter, den meine Verwandten für mich bereitgestellt hatten. 
Sie hatten seit meiner Geburt wenig von mir mitbekommen und waren wahrscheinlich ziemlich unglücklich über den Klotz am Bein. Aber ich hatte keine Wahl, ich war nämlich allergisch gegen einen Strick, Rasierklingen und Tabletten. Wobei die Allergie hier noch das geringste Hindernis gewesen wäre. Aber so komisch das klingt, ich wollte leben. 
Bald stellte sich heraus, dass ich gegen mein Glas allergisch war. Es wurde ausgetauscht, aber das half nichts. Jedes Geräusch ließ meine Temperatur in die Höhe schnellen. Jeder Lichtstrahl stach mir in die Augen, jede Berührung machte mich kribbelig. Ich brachte keine Nudeln mehr herunter, niemand kam mehr zu mir. 
Irgendwann schlief ich ein und träumte von einem klugen Mann mit Kahlkopf und Brille, bestimmt ein Professor. Er richtete einen hellen Scheinwerfer auf mich, betrachtete mich eine Weile und sagte dann zu seinen Assistenten: „Was ist denn daran komisch? Eine ganz normale Reaktion auf das Leben.“ Anschließend schaltete er den Scheinwerfer aus und deckte ein Laken über mich. Die Assistenten tappten im Gänsemarsch zur Tür. Kein Licht mehr, kein Laut, kein Lüftchen. Die Tür schlug zu. 

Aus dem Belarussischen von Thomas Weiler

Dunkel. Ein Abenteuerroman

Sie ist hoch aufgeschossen, wie eine Föhre mit gekrümmtem Wipfel, eine Hand hält den Schirm, die andere den Gatten und die Hundeleine. Der Hund springt hinterdrein, so treten sie zu dritt aus dem Hotel, dessen Wände behängt sind mit zahllosen bärtigen Greisen – hinter jedem Bart ein großer durchlittener Schmerz. 
Sie mit dem Schirm sagt zu Mann und Hund: 
„Was für ein hübscher Weg, was für hübscher gelber Sand, ach, was für ein Morgen, mein Lieber!“
„Ja, ja“, antwortet der Mann und greift immer wieder um, da ihn die Hundeleine stört. 
„Hier ist, wie soll ich sagen, so klare Alpenluft …“ (danach wird es unverständlich). 
„Ja, ja“, antwortet der Mann. 
Wir stehen zu dritt am Wegesrand und grinsen vergnügt. Wir sagen laut und ohne einander anzusehen, denn wir wissen ja, wie wir aussehen: 
„Was für eine lange Tante.“ 
„Mit langer, rosiger Nase.“ 
„Mit langem, rosigem Schirm.“ 
„Mit langem Hund.“ 
„Eine außergewöhnliche Erscheinung.“ 
Das sagen wir und grinsen. Warum sollten wir auch nicht grinsen? 
„Ach, mein Lieber, schau nur, was für Kinder, wie herrlich sie plappern!“ Sie versteht uns hier nicht.
„Ja, ja“, antwortet der Mann. „Sehr hübsche Kinder.“ 
„Eine außergewöhnliche Erscheinung“, sage ich noch einmal. Aber sie versteht nicht. 
„Mein hübsches Kind“, spricht sie mich an. „Du bist bestimmt aus dem Dorf, nicht?“ 
„Ja, aus dem Dorf“, bestätige ich. „Und du aus dem Kuriositätenkabinett?“ 
Aber sie antwortet nicht auf meine Frage. 
„Ist euer Dorf weit von hier?“ fragt sie weiter. Ich überlege kurz und antworte dann: 
„Das Dorf ist weit.“ 
„Ihr seid bestimmt zum Beerensammeln in den Wald gegangen!“ verkündet sie im Brustton der Überzeugung. 
„Zum Beerensammeln, in den Wald.“ 
„Ach, was für hübsche Kinder. Es ist euch doch sicher sehr angenehm, in so einer schönen Umgebung zu leben.“ 
„Ja, ist uns angenehm“, bestätige ich, das ist ja nur Gerede, was soll ich da widersprechen. 
„Ihr Hübschen! Aber weshalb tragt ihr so schmutzige, zerrissene Kleider? Können euch Mama und Papa denn keine neuen kaufen?“ 
„Mama und Papa haben wir nicht“, antworte ich. Dafür wird es bestimmt was setzen, vor Mama und Papa kann man nichts verbergen, sie wissen alles. Aber sei’s drum, jetzt sage ich das so, weil das jetzt eine ziemlich gute Idee ist: „Mama und Papa habe ich nicht.“ 
„Ihr Ärmsten!“ Die Tante mit dem Schirm schlägt die Hände zusammen. „Und ihr lebt ganz allein?“ 
„Ganz allein.“ 
„Wie entsetzlich! Fürchtet ihr euch denn nicht alleine?“ 
„Wir fürchten uns nicht alleine. Klar, die Guelfen könnten uns angreifen, aber das kommt selten vor, und wir haben ein Wort gegen sie.“ 
„Guelfen?“ Ihre Stirn spielt Ziehharmonika. 
„Ja, ja“, bemerkt der Mann. „Kürzlich habe ich Dante wiedergelesen …“ 
„Was denn für Guelfen?“ Sie kann sich gar nicht beruhigen. „Vielleicht Elfen?“ 
„Vielleicht Elfen“, antworte ich. 
Sie schweigt eine Weile, dann wendet sie sich wieder an mich: 
„Mein hübsches Kind! Möchtest du nicht mit uns kommen?“ 
„Mit euch kommen?“ 
„Ja. In die schöne, große Stadt. Du kannst auch deine Schwestern mitnehmen, sie werden zur Schule gehen, die Sprache lernen, auch du wirst zur Schule gehen.“ 
„Wohin?“ 
„Wohohin“, sagt der Mann. „Ja, ja.“ 
„Zur Schule“, fährt sie dazwischen und zerrt an ihrem Hund. „In der Schule bekommen Kinder viele interessante Dinge beigebracht.“ 
„Und den Rohrstock“, ergänzt der Mann. 
„Ach mein Lieber, was redest du denn?“ Wieder zerrt sie an ihrem Hund. „Wie ich sehe, sind das hübsch artige, verständige Kinder. Sie bekommen gewiss keinen  Rohrstock. Woher denn?“ 
„Ja, ja“, lenkt der Mann ein und steckt sich eine Zigarre an. 
„Ja, ja“, antworte ich. „Bestimmt ist es sehr gut dort, in dieser Schule, wo man viele interessante Rohrstöcke bekommt. Aber dort gibt es nicht so eine Föhre mit gekrümmtem Wipfel. Wenn es dort genau so eine Föhre mit gekrümmtem Wipfel gibt, kommen wir natürlich mit in die Stadt und lernen die Sprache.“ 
„Eine Föhre? Nichts weiter?“ Sie schnäuzt ihre rosige Nase in ein Spitzentüchlein und zerrt an ihrem Hund. „Ich denke doch, dass wir dort eine Föhre finden.“ 
„Es muss aber genau so eine Föhre sein“, antworte ich. „Sonst kommen wir nicht mit.“ 
„Gut, es wird dort genau so eine Föhre geben.“ Weshalb lügt sie denn? „Ihr müsst sicher noch eure Siebensachen packen.“ 
„Wir müssen noch unsere Siebensachen packen.“ 
„Und dann kommt ihr zu uns ins Hotel. Wir gehen nämlich jetzt gleich dorthin.“ 
„Ja, ja, es ist schon Abend“, sagt der Mann. 
„Wieso denn Abend?“ Sie hält inne. „Gerade war noch Morgen, wie kann jetzt plötzlich Abend sein?“ 
„Es ist schon Abend“, sagt der Mann noch einmal, und sie gehen zurück ins Hotel. 
Wir stehen zu dritt unterm Fenster und hören, wie sie sich mit der Wirtin unterhalten. 
„Was für hübsche Kinder es hier gibt!“ sagt die Tante mit dem Schirm. 
„Was für Kinder?“ wundert sich die Wirtin. „Wir haben keine Kinder.“ 
„Und das Dorf? Können die Kinder nicht aus dem Dorf hergelaufen sein?“ 
„Was für ein Dorf? Hier gibt es kein Dorf! Hier gibt es keine Kinder!“ 
„Aber wie denn, was denn …“ Die Tante mit dem Schirm zerrt verwirrt an ihrem Hund. „Heute Mittag, auf dem Weg …“ 
„Hier gibt es keinen Weg!“ entgegnet die Wirtin. 
Der Mann mit der Zigarre tritt ans Fenster, schaut hinaus und sagt: 
„Ja, ja.“ 
„Aber wo waren wir denn heute spazieren? Mein Lieber! Wir waren doch heute auf einem Weg spazieren, einem gelben, mit Sand!“ 
„Ja, ja“, lenkt der Mann ein. „Ist das denn so wichtig?“ 
„Selbstverständlich ist das wichtig! Du erinnerst dich doch: Wir haben diese hübschen Kinder getroffen, sie sagten, sie würden gleich packen und hierher zu uns kommen, sie lebten im Dorf und würden mit uns in die Stadt kommen, wenn es dort so eine Föhre gibt wie hier.“ 
„Hier gibt es keine Föhre!“ sagt die Wirtin. 
„Eine Föhre! Eine Föhre mit gekrümmtem Wipfel!“ schreit sie hysterisch und zerrt an ihrem Hund. Der Hund ist auch hysterisch. 
„Ja, ja“, lenkt der Mann ein. „Sie haben gesagt, sie kommen zum Hotel.“ 
„Aber hier gibt es kein Hotel“, entgegnet die Wirtin. 
„Kein Hotel! Und wo sind wir dann?“ 
„Ja, ja“, antwortet der Mann. 
Der Hund fiept. Die Wirtin ist in der Küche verschwunden. Eine fröhliche Frau. Der Mann schaut aus dem Fenster. Draußen ist es dunkel. 

Aus dem Belarussischen von Thomas Weiler

Wunder

Einmal sagte Witalik: „Wenn du willst, zeige ich dir einen Ort, an dem elektrische Eisenschlangen kriechen.“ Sofort stellte ich mir ein kleines, geheimes Plätzchen vor, wo sich im Halbdunkel geschmeidige, glänzende Schlangen winden und dabei klirren und Funken sprühen. „Na klar will ich!“, sagte ich, und wir liefen los. Nicht weit von unserem Haus verlief die Eisenbahnstrecke, aber um dorthin zu gelangen, musste man einen Zaun überwinden, der zwar aus Beton war, aber alt und löchrig. Am Zaun und noch ein Stück weiter wuchsen Bäume, Kastanien und Apfel, unter denen wiederum Pilze wuchsen. Wir sammelten sie oft und brachten sie nach Hause, doch unsere Eltern schienen eine stille Verabredung zu haben: sie bereiteten die Pilze niemals zu, sondern warfen sie jedes Mal weg. Keiner von uns hatte also jemals den Geschmack dieser Pilze kosten dürfen. 
Ich stellte mir also vor, dass unter diesen Bäumen, wo im Dunkel kaum Gras wuchs, ein Gebüsch stünde und wenn man die Zweige auseinanderschöbe, könnte man dort, in der Mitte, auf einer schwarzen, flachen Fläche, die elektrischen Eisenschlangen sehen, wie sie ganz ganz leise, so dass es von draußen niemand hören kann, klirren und fast lautlos ihre Funken versprühen. 
Ich war völlig in meinem Traum versunken, Witalik und ich waren schon am Zaun angelangt, hielten aber nicht an, sondern kletterten durch ein Loch und standen schließlich auf einem Hügel. Von hier aus sah man eine Menge paralleler Gleise und auf ihnen eine Unmenge Züge. Manche fuhren, andere standen. „Da sind sie – die elektrischen Eisenschlangen“, sagte Witalik zufrieden und deutete mit dem Finger auf die Züge. 
Ich war damals ziemlich sauer und beschloss, mich unbedingt zu rächen – Witalik und ich waren immerhin Freunde! Ich wollte es ihm so richtig zeigen! Er sollte sehen, dass ich wirkliche Wunder vollbringen konnte, nicht nur gewöhnliche Züge als schöne Fantasieschlangen ausgeben. Aber es zeigte sich, dass ich keine Wunder vollbringen konnte. Ich tischte Witalik allerlei Lügengeschichten auf, aber er glaubte keine von ihnen. Denn ich glaubte sie ja selbst nicht. Besonders beschämend war, dass Witalik offenbar nur darauf wartete, dass ich seinen elektrischen Eisenschlangen etwas entgegensetzen konnte. Und da sagte ich, dass ich ohne Angst in den Abwasserkanal springen würde, in den Gully an der Kreuzung, der immer offensteht und dampft. Denselben Gully, in den einmal das Mädchen aus dem Nachbarhaus gefallen war – und niemand hatte sie je wiedergesehen. Witalik sagte: „Das traust du dich nie.“ Hätte er das nicht gesagt, hätte ich es wohl nicht ausprobiert. Ich presste also all meine Angst zwischen den Knien zusammen und sprang.
Und niemand hat mich jemals wiedergesehen.

Aus dem Belarussischen von Tina Wünschmann


Die Übersetzungen dieser Texte und die Veröffentlichung im Rahmen des dekoder-Specials Durch die Nacht, durch den Sturm – Literatur aus Belarus  entstanden mit freundlicher Unterstützung des Goethe-Instituts im Exil, das 2024 einen Länderschwerpunkt Belarus präsentiert.