Zhadan
„Da seht ihr, wohin Revolutionen führen!”
Serhij Zhadan gehört zu den wichtigsten zeitgenössischen Schriftstellern der Ukraine. Er schreibt Gedichte und Prosa. In seinen Romanen beschäftigt er sich mit den Verwerfungen, die die ukrainische Gesellschaft seit der Unabhängigkeit durchlebt. So steht in seinem vorerst letzten Roman Internat (2018) der Krieg in der Ostukraine im Vordergrund der Handlung. Zhadan, dessen Bücher in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden, mischt sich auch immer wieder in die gesellschaftspolitischen Diskurse seines Landes ein – und in die der Region. Wie nimmt die Ukraine wahr, was in Belarus seit Sommer 2020 geschieht – darüber schreibt er in diesem Text.
Belarus liegt der Ukraine so nah, dass man, wenn die Demonstranten auf dem Platz in Minsk zu skandieren beginnen, in Kiew ihre Worte versteht. Wir haben zu viel gemeinsam, um einander nicht zu hören. Vor allem die gemeinsame Quelle äußerer Bedrohung. Das Putin-Regime, das sowohl die Ukraine als auch Belarus ausschließlich und vor allem als eigene Einfluss- und Interessensphäre betrachtet, hätte die Ukrainer und Belarussen schon lange von der Notwendigkeit gemeinsamen Widerstands überzeugen müssen. Wenn es aber nicht um den Widerstand gegen eine äußere Gefahr, sondern gegen eine Gefahr im Innern geht, handeln unsere Gesellschaften nicht wirklich synchron: Mit hohem Blutzoll konnten die Ukrainer im Winter 2014 schließlich den Versuch der Restauration einer postsowjetischen feudalen Tyrannei verhindern und sich aus der kraftvollen Umarmung des „großen Bruders“ lösen, der schon ganze dreißig Jahre lang an posttotalitärem Revanchismus leidet und die Nachbarländer in den Orbit seiner Komplexe und Ängste zieht. Die Belarussen hingegen wurden vom Lukaschenka-Regime in den vergangenen sieben Jahren mit einem simplen Mantra ruhiggestellt – da seht ihr, wohin Revolutionen führen! Wenn ihr keine russischen Truppen auf den Straßen eurer Städte wollt, unterstützt die derzeitige Staatsmacht! Nach den Ereignissen des vergangenen Herbstes aber sind solche Argumente nicht mehr aktuell – kaum begann Lukaschenkas Sessel zu wackeln, da erschienen wirklich Truppen in den Straßen. Allerdings waren es belarussische Einheiten. Die sich den Bürgern von Belarus entgegenstellten. Damit hatte die ukrainische Variante die belarussische Gesellschaft eingeholt, die sich früher oder später einfach vor die Wahl gestellt sehen musste – weiter eine unterwürfige, gefügige Masse zu bleiben oder doch zu versuchen, die eigene Zukunft in die eigenen Hände zu nehmen.
Wie sich zeigte, erwies sich das Regime Lukaschenka als erheblich entschlossener und zynischer, als das Regime Janukowytsch (vielleicht auch, weil es die Möglichkeit gehabt hatte, aus den Erfahrungen des ukrainischen Diktators zu lernen), sodass die Probleme der ukrainischen und der belarussischen Gesellschaft unterschiedliche Färbungen haben. Die Ukrainer versuchen, laut und kompromisslos den vor sieben Jahren eingeschlagenen Bewegungsvektor ihres Landes zu verteidigen, während die Belarussen gezwungen sind, sich einem Diktator entgegen zu stellen, der offensichtlich auf den blutigen Geschmack gekommen ist und in seiner Sackgasse aus Isolation und allgemeinem Boykott heute keinerlei Grund mehr hat, sich zu mäßigen und inneren oder äußeren Reaktionen Beachtung zu schenken.
Das belarussische Regime ist bereit, bis zum Ende zu gehen
Die Lage in Belarus erscheint als zu gefährlich und anormal, als dass man sie ignorieren könnte. Vor allem die Ukraine nicht, für die Belarus in den letzten Jahren als eine Art Übergangs- oder Pufferzone fungiert hat zwischen der ukrainischen und der russischen Grenze, als neutrale Plattform, auf der jeden Moment Bewegung entstehen konnte, die nicht nur für die Belarussen selbst, sondern auch für uns Ukrainer von Bedeutung wäre. Auch der Umstand, dass die Verhandlungsprozesse zur Lösung des ukrainisch-russischen Konflikts eben in Minsk stattfanden, sagt viel aus – Lukaschenkas Versuche, in der Konfrontation zwischen Moskau und Kiew als Schiedsrichter aufzutreten, waren für ihn in gewisser Weise die Garantie der eigenen Sicherheit und Unantastbarkeit. Mit den Wahlen im vergangenen Jahr hat sich jedoch alles grundlegend verändert. Auch die ukrainische Regierung, die bis dahin gezwungen war, mit dem „letzten Diktator Europas“ (oder dem vorletzten – was in der Sache rein gar nichts ändert) Kontakt zu pflegen, konnte nicht anders als auf die Stimmungen in der ukrainischen Gesellschaft zu reagieren (und auf die Stimmungen in der Welt, um es deutlich zu sagen) und das Regime Lukaschenka zu verurteilen.
Wie sich die Ereignisse weiter entwickeln werden, ist schwer vorauszusagen. Das belarussische Regime ist demonstrativ blutrünstig und bereit, bis zum Ende zu gehen. Aber auch die Belarussen, die im letzten Herbst erstmals so massenhaft ihre Unzufriedenheit mit der Diktatur und dem Fehlen einer Wahl zum Ausdruck brachten, lassen keinerlei Bereitschaft erkennen, ihren Kampf aufzugeben. Und wenn die Erfolgsaussichten für diesen Kampf kurzfristig auch nicht gut zu sein scheinen, so kann man doch davon ausgehen, dass Belarus wohl kaum dasselbe bleiben wird, wie vor jenen Wahlen. Eine Gesellschaft, die so entschieden für die Notwendigkeit von Veränderung eingetreten ist, wird sich nicht damit zufriedengeben, dass es keinerlei Veränderung gibt. Zweitens kann das Regime Lukaschenka, so selbstsicher und kämpferisch es sich geben mag, nicht mehr auch nur auf den Hauch von Legitimität oder offizieller Anerkennung in der Welt rechnen. Natürlich kann man die Realität ignorieren und weiter in einer selbst erfundenen Wirklichkeit leben. Ein politisch und historisch derart inadäquates Verhalten wird jedoch eher früher als später mit neuen Bastille-Ruinen enden.