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Volski

Der Sumpf erwacht

Text: Lavon VolskiÜbersetzung: Tina WünschmannTitelbild: Anonym09.08.2021

Die Unabhängige Republik der Träume (blr. Nesaleshnaja Respublika Mroja, abgekürzt N.R.M.) so nannte Lavon Volski die Band, die er 1994 gründete. Im selben Jahr, als Alexander Lukaschenko zum Präsidenten gewählt wurde. Volski ist für seine scharfen und poetischen gesellschaftspolitischen Texte bekannt. So wurde er zur Ikone der alternativen Musikszene seines Landes, viele seiner Songs wie Try Tscharapachi (dt. Drei Schildkröten) entwickelten sich über die Jahre zu Hymnen der Protestkultur. Hier lässt er den Sommer 2020 Revue passieren und fragt sich, wie sich der Wandel in Belarus bereits manifestiert hat.

Alles hat sich verändert: Die Menschen, ihre Wahrnehmung der Realität, die Musik, das Theater, die Literatur, die bildende Kunst. Die Beziehung zur Staatsmacht hat sich geändert, die Einstellung gegenüber der Regierung. 

Schon sehr lange Zeit existierte das Volk parallel zur Staatsgewalt. Manchmal kreuzten sich ihre Wege – die Menschen nahmen mit Gnade der Regierung Kredite für Wohnungen, Autos, Häuser und Fernseher auf, sie erhielten Unterstützung für ihr Kind, oder andere, positiv zu nennende Beispiele für die Interaktion der Menschen mit der Staatsmacht. Doch es gab auch (zahlreiche) negative Überschneidungen – wenn du zum Beispiel eine Firma oder eine hohe Position im Staatsdienst (wie Betriebsleiter, Direktor einer Bildungseinrichtung oder eines Verlagshauses) hast, gehörst du zur Risikogruppe. Spezielle Strukturen werden wiederholte und systematische Vergehen in deinem dienstlichen Handeln finden – und herzlich willkommen! – sitzt du für drei Jahre (oder mehr) im Knast.

Ansonsten existierten die Menschen parallel zur Staatsmacht – wenn ihr uns nicht stört, dann verschließen wir die Augen vor eurer Imitation einer Wahl, den absurden Aussagen des ewigen Anführers und dem Übermut der Beamten – dieser „neuen belarussischen Aristokratie“.

Die Menschen bauten ihre Häuser, erzogen ihre Kinder, verdienten auf drei Arbeitsstellen ihr Geld. Sie waren mit sich selbst beschäftigt.

Unterdessen setzte der Staat auf Sport und Schlager. Auf das, was dem Anführer gefiel. Moderne Kunst verstand er nicht, sie erzürnte ihn. Im besten Fall übersah der Staat Konzerte, Aufführungen und Ausstellungen einfach. Im schlimmsten Fall verbot er sie. Es tauchten schwarze Listen  mit Musikern, kreativen Aktivisten und anderen herausragenden Persönlichkeiten auf, die eben nicht zur richtigen Zeit den „inneren Zensor“ eingeschaltet hatten. 

Dem Volk wurde vorgeführt, was ordentliche Kunst ist: Dashynki  und Slawjanski Basar. Dort treten die ordentlichen, „verdienten Künstler“  auf, alles andere entbehrt der Form und ist nutzloses Geheul aus dem Hinterhof.

Einige Zehntausend Fans hatte dieses Geheul jedoch immer gehabt.

Und es trug sich zu, dass eine Pandemie kam, von der sich die Regierung distanzierte, sodass das Volk selbst organisiert den Kampf mit dem Virus aufnahm. Zuvor desintegriert, sahen die Menschen nun, wie viele Nachbarn, Bekannte und Freunde ebenfalls nicht gleichgültig waren. 

Alle nahmen neue Protestsongs auf

Dann kamen die Wahlen. Die Regierung versuchte mit allen Mitteln dem Volk zu beweisen, dass jeder besser wie früher allein in seiner Hütte sitzt. Alle Anführer wurden verhaftet, auch die Aktivisten kamen an die Reihe. Das Volk erwachte. Das Volk protestierte. Dann stellte sich heraus, dass der unerschütterliche Regent bei den Wahlen 80 Prozent der Stimmen erhalten habe, was natürlich weit von der Realität entfernt war. Die Mehrzahl der Menschen sah dies und verstand, dass man sie über viele Jahre hinweg plump und ungeniert betrogen hatte. Die Regierung antwortete mit Unterdrückung – die Menschen wurden erschlagen, verstümmelt und gefoltert. Das rief eine neue Protestwelle hervor.

Hoch hinaus: Ein junger Mann erklimmt das Lenin-Denkmal am Platz der Unabhängigkeit in Minsk / Foto © Anonym

Den kreativen Menschen, die bereits vorher nicht gleichgültig gewesen waren, schlossen sich neue an, junge und nicht mehr ganz so junge, darunter auch solche, die zuvor jahrelang beim Slawjanski Basar aufgetreten und scheinbar absolut systemtreu gewesen waren. Alle nahmen neue Protestsongs und Videoclips auf und unterstützten das Volk nach Kräften in seinem Kampf. Und das Volk sah das und schätzte es. Was früher im Netz von einigen hundert Menschen geschaut wurde, sahen sich nun Hunderttausende an, Musiker, Schauspieler und Schriftsteller gingen in die Höfe, wo sich die Menschen versammelten – Nachbarn, Bekannte, Freunde – und spielten Konzerte, einige hatten in dieser Zeit an die hundert Auftritte! 

Und so erwachte der ureigene belarussische Sumpf  zum Leben, der doch, so schien es, auf ewig zum stillen und stinkenden Sumpfleben verdammt gewesen war.

Die Repressionen nehmen zu, schon der unbedachte Blick zu einem Polizisten wird bestraft, und dennoch lässt sich nichts mehr rückgängig machen. 

Ich bin glücklich. Das Volk schlief, und ich wollte es aufwecken. Ich schüttelte es, ich kitzelte es, ich übergoss es mit kaltem Wasser … und als ich die Hoffnung schon aufgegeben hatte, erwachte es und erhörte mich. Mich und Hunderte, Tausende andere Menschen, denen nicht alles egal ist. Und wir werden weitergehen. 

Weiter auf dem gewundenen und mühsamen Weg zur Freiheit.