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Arcimovich

Eines Tages wird es enden, Genosse Major!

Text: Tania ArcimovichÜbersetzung: Tina WünschmannTitelbild: Anonym09.08.2021

„Auch wenn die Zukunft der belarussischen Gesellschaft ungewiss bleibt, muss sie eintreten. Damit die Gesellschaft wieder funktions- und der Mensch lebensfähig wird.” Dies schreibt Tania Arcimovich Anfang 2021 im Vorwort einer Ausgabe der Kunstzeitschrift pARTisankA, die sich mit den Protesten in Belarus beschäftigt. Als Kunstkritikerin, Theaterexpertin und Forscherin beobachtet Arcimovich, wie Kunst und Kultur Räume des Non-Konformismus in den vergangenen 25 Jahren für sich erobert haben und wie sie gesellschaftspolitische Entwicklungen verarbeiten und begleiten. Hier beschreibt sie, warum das System der Repression und der Gewalt in Belarus aktuell noch so gut funktioniert.

Meine erste tiefe Entfremdung von der Geschichte spürte ich, als ich 2012 nach Berlin kam und die Überreste der Berliner Mauer sah. Ich erinnere mich, wie ich diese Steine anschaute und die Materie der Zeit greifen konnte, ihre Vielschichtigkeit und Asynchronität. Aber auch die Unausweichlichkeit. Der Berliner Mauerweg mit all den Spuren, die die ganze Stadt durchdringen, gehört bis heute zu meinen liebsten Routen, wenn ich in der Stadt bin. Ich laufe ihn einfach entlang und erlebe gleichzeitig mein Jetzt als physische Erfahrung und meine Zukunft. Ich höre das Lachen der Geschichte – besonders laut lacht sie über den Infantilismus derer, die sie ignorieren, denn, wie Hannah Arendt sagte, „schiere Gewalt kann niemals Anspruch auf Größe machen“. Was wird also in den Geschichtsbüchern aus Ihnen werden, Genosse Major?

Kürzlich sprachen wir darüber, wie sehr die Anwesenheit anderer in unseren Leben zu unserem Alltag geworden ist. Wir wissen, die Stasi ist immer dabei. Wir nehmen an, dass jemand aus unserem nahen Bekanntenkreis, vielleicht sogar ein Freund, Berichte schreibt. Als ich mit einer Freundin telefonierte, wurde plötzlich das Gespräch unterbrochen. Sie rief mich zurück und sagte: „Wahrscheinlich ist unser Gespräch dem Genossen Major zu langweilig geworden.“ Und lachte. Es klingt unglaublich, aber wir haben uns daran gewöhnt. Manchmal scheint mir, das wirklich Schreckliche ist die Tatsache, dass das zu unserer Normalität geworden ist.

„Es lebe die Freiheit!“ steht auf dem Plakat, das der Regen langsam verwischt / Foto ©Anonym

Dies aber zu ignorieren erlaubt mir, lebendig zu bleiben. Es fehlt an Glauben an sich selbst und Vertrauen in die eigene Wahrheit. Deshalb hat es die Manipulation so leicht. Ich habe mehrere Male ein Video angeschaut, in dem ein Beamter ein vorwarnendes Aufklärungsgespräch mit einer Studentin führt, die für das Tragen einer weiß-rot-weißen Flagge verhaftet wurde. Sie erklärt ihm, das sei das Symbol für Veränderung, woraufhin er ihr in väterlich zugewandtem Tonfall von Kollaborateuren im Zweiten Weltkrieg erzählt, die diese Fahne trugen. Sie verheddert sich und weiß nichts zu erwidern, fühlt scheinbar ihre Wahrheit, ohne jedoch Argumente zu haben. Sie schämt sich und knickt schließlich ein.

Doch die Geschichte ist unvorhersehbar, und so bleibt etwas Hoffnung

Kafka ist zurzeit einer der meistzitierten Autoren bei uns. Mir scheint allerdings, dass das Wichtigste aus seinem Roman Der Prozess bislang unberücksichtigt geblieben ist. Die pervertierte Jurisdiktion ist das eine. Der Held jedoch beginnt wirklich zu glauben, dass er schuldig ist. Und genau das ist es, was diejenigen anstreben, deren Schwäche und Angst vor dem Leben die Grundfesten des autoritären Systems bilden: dass der Mensch ins Zweifeln gerät und an die eigene Schuld zu glauben beginnt. Im Film Das Leben der Anderen wird das sehr eindrücklich gezeigt, als ein Stasi-Offizier Studenten den Sinn mehrstündiger Verhöre erklärt. Ein Ziel dabei lautet, den Befragten aus seiner normalen emotionalen Verfassung zu bringen, ihn müde zu machen. Dann, so sagt der Dozent, verfällt der Mensch, wenn er unschuldig ist, in Hysterie, wird aggressiv, da es ungerechtfertigt ist, dass er an diesem Ort ist. Ist er aber schuldig, so wird er ruhiger und beginnt zu weinen – von der Schuld übermannt. Das Ziel ist also, den Menschen zum Weinen zu bringen, ihm den Glauben und die Überzeugung zu nehmen, dass der Lebenswille das natürliche Bestreben eines jeden Lebewesens ist. 

Alexei Yurchak sagt in seiner Beschreibung der Voraussetzungen für den Zusammenbruch der Sowjetunion, dass es noch lange nicht vorbei ist. Ich lese sein Buch und verstehe, dass wir im Moment – wie nie zuvor – das Verrotten unseres verkommenen Systems erleben. Dieser Prozess begann bereits vor dem August 2020, als sich schließlich nicht nur Einzelne, sondern Hunderte und später Tausende Belarussen ihre zuvor entfremdeten politischen Ziele zurückeroberten. Mit diesem Gefühl der eigenen Integrität kam auch eine große Freude, die Arendt die des freien Bürgers nennt. Offensichtlich hat das nicht gereicht; die repressiven Mechanismen versuchen die Uhr zurückzudrehen und die Erinnerung an das Geschehene zu verwischen. Wenn ich die Erfahrungen anderer Staaten betrachte, frage ich mich manchmal: Warum eigentlich nicht? Warum sollte hier, im Zentrum Europas, nicht noch ein nicht anerkannter Staat entstehen? Mit Stacheldraht und Mauern umzogen, wie es vor vielen Jahren schon einmal war. Doch die Geschichte ist unvorhersehbar, und so bleibt etwas Hoffnung. Am Ende des Films Das Leben der Anderen wird der Stasi-Hauptmann wegen „Nichterfüllung“ des Auftrags und Sabotage des Systems aller Privilegien entledigt und bis zum Lebensende in die Poststelle versetzt. Viereinhalb Jahre später fiel die Mauer.

Eines Tages wird es enden, Genosse Major. Ich weiß das – und Sie?