Hier kommt Belarus!

Seit Sommer 2020 protestieren die Belarussen für Neuwahlen und für ihre Grundrechte – friedlich, kreativ und äußerst wandlungsfähig. Wir lassen die Vielfalt und Höhepunkte der Protestkultur in diesem visuellen Rückblick Revue passieren.

Kino und die DJs. Die Coronakrise und die Verhaftungen potentieller Präsidentschaftskandidaten haben den Unmut im Land angeheizt. Zu den Wahlkampfveranstaltungen von Swetlana Tichanowskaja strömen im Juli zehntausende Menschen – so viele wie noch nie in der Geschichte des Landes. Am 6. August versammeln sich Anhänger von Tichanowskaja auf dem Kiewer Platz im Norden der Stadt. Die beiden DJs Kirill Galanow und Wladislaw Sokolowski – eigentlich für ein von den städtischen Behörden organisiertes Fest nebenan engagiert – spielen dort spontan den Song Peremen! (dt. Wandel) der sowjetischen Kultband Kino. Der Rest ist Geschichte: Die Leute singen, jubeln, dann Victory-Zeichen, Stecker raus. Ein Symbolbild ist geboren.

Der 9. August 2020. Die Zentrale Wahlkommission verkündet, dass Lukaschenko die Wahl mit 80 Prozent klar gewonnen habe – für viele Menschen ein Hohn angesichts der deutlich sichtbaren Proteststimmung im ganzen Land. Die Empörung kulminiert noch am selben Abend: Zehntausende strömen auf die Straßen, in Minsk wie auch in anderen Städten. OMON und Miliz  gehen brutal gegen die Demonstranten vor – mit Knüppeln, Gummigeschossen und Blendgranaten. Vereinzelt wird scharf geschossen. Es sind Szenen wie aus einem Bürgerkrieg. Es gibt Schwerverletzte, am 10. August den ersten Toten und in den nächsten Tagen tausende von Festnahmen. Doch die Protestwelle ebbt – anders als in früheren Jahren – nicht ab.

Ganz in Weiß. In überwiegend weißen Kleidungsstücken und mit Blumen in den Händen versammeln sich am 12. August gut 250 Frauen vor dem Komarowski Markt in Minsk. Auch in anderen Städten organisieren Frauengruppen solche Flashmobs und Menschenketten, die schon seit vielen Jahren zum Standardrepertoire der Protestkultur gehören. Die Frauen demonstrieren so ihre Solidarität mit den Inhaftierten. Mit der Farbe der Unschuld und der Blume als Symbol des Sich-Annäherns versuchen sie der Gewalt und dem Schrecken jener Tage offenbar eine Geste der Beschwichtigung entgegenzusetzen.

Raus auf die Straße. „Marsch der Freiheit“ – am 16. August strömen die Belarussen raus auf die Straßen. Allein in Minsk versammeln sich an der Stele der Heldenstadt  bis zu 250.000 Menschen. Es sind eindrucksvolle Bilder, die aus dem selten wahrgenommenen Land um die Welt gehen. Die Belarussen zeigen offen ihre Wut und ihren Unmut. Die politische Lethargie, die man ihnen nachsagt, scheint überwunden. Die Straßenproteste, insbesondere die Sonntagsmärsche, aber auch die Frauenmärsche und die Märsche der Rentner werden zum kraftvollen Ausdruck der neuen Selbstermächtigung.

Gewalt in den Haftanstalten. 7000 Menschen werden allein in der ersten Woche der Proteste inhaftiert. Die Namen von Gefängnissen wie Okrestina und Shodino werden in diesen Tagen fester Bestandteil des alltäglichen Sprachgebrauchs. Dort versammeln sich Freunde und Angehörige zu Hunderten, auf der Suche nach ihren Nächsten. Videos und Fotos zeigen, dass sich Inhaftierte in Gefängnishöfen und in Höfen von Polizeirevieren übereinander stapeln oder in Turnhallen stundenlang in gebückter Stellung verharren müssen. Viele derjenigen, die als erste entlassen werden, weisen deutliche Spuren von Folter und Misshandlungen auf. Die extreme Gewalt von Seiten des Staates heizt die Proteste weiter an.

Die Straße als Bühne. Auf Plakaten drücken die Demonstranten mit kreativen Wortspielen und Illustrationen ihren Unmut an den Herrschenden aus. Mit szenischen Aktionen wird das System Lukaschenko persifliert. Mobile DJs laden zum Tanz, Schlagzeuger trommeln gegen Gewalt und Repression. Bekannte Musiker wie Pit Paulau, Mitgründer der Band N.R.M., schnappen sich ihre Gitarre und singen gegen die Wand aus OMON-Sondereinheiten und Miliz an. Die Straßenproteste entwickeln sich zu weitgehend friedvollen Happenings, auf denen die Belarussen sich und ihren neuen Mut zelebrieren.

Rückeroberung des öffentlichen Raums. Auch das gemeinsame Singen von Volksliedern, religiösen oder anderen bekannten Liedern an öffentlichen Plätzen (wie hier in der Minsker Metro) entwickelt sich zu einem festen Bestandteil der Protestkultur. Das Ziel: Bei all diesen Praktiken geht es offenbar darum, den Machthabern den öffentlichen Raum als Bühne der Macht und der eigenen Selbstdarstellung zu entreißen und ihn durch Menschlichkeit und Kreativität zu einem Raum der Öffentlichkeit zu gestalten.

Bildersturm. „Dieses Plakat kann der Grund für meine Festnahme sein.“ Die Künstlerin Uljana Njausorawa zeigt in der Minsker Metro dieses Plakat und protestiert damit nicht nur gegen Repressionen, sondern macht so die Bedeutung der Bildsprache bei den Protesten deutlich. Die Machthaber haben der hippen Bild- und Designsprache und der Kreativität offenbar nur wenig entgegenzusetzen. Viele Erscheinungsformen der Protestkultur wirken mitunter wie eine Inszenierung, die Regisseure konzipiert und Marketing-Experten für virale Kampagnen in den sozialen Medien aufbereitet haben.

Humor vs. Horror. Eine weitere Besonderheit der Protestkultur: die Entlarvung der Gewalt, die Überwindung der Angst durch das Harmlose und Friedliche, durch das scheinbar Alltägliche oder durch die Macht des Humors. Memes und Videos sollen das autoritäre System persiflieren und ihm so den Schrecken nehmen. So wird auch der virtuelle Raum zu einem Kampfplatz um Freiheit und Deutungshoheit.

Partisanentaktik. Frauen umzingeln eine Kette, die Milizionäre gebildet haben, um die Protestierenden aufzuhalten, und zwingen die Sicherheitskräfte so, ihre Taktik aufzugeben. In dem Video zeigen sich zwei Dinge, die prägend für die gesamte Protestkultur werden: das solidarische Einstehen füreinander und eine partisanenhafte Taktik, die wiederum auf eine lange eingeübte Tradition zurückgeht. Der Schriftsteller und Künstler Artur Klinau  sagt dazu: „Seit über zweihundert Jahren ist das Partisanentum eine unverzichtbare Strategie zur Selbsterhaltung, eine alternativlose Überlebenstechnik für die belarussische Kultur.“

Solidarität unter Nachbarn. „Das Stärkste sind im Moment wohl die Hinterhöfe“, schreibt der Soziologe Gennadi Korschunow. „Die Selbstorganisation dort ist der Beginn einer neuen Regierung, die der aktuellen Regierung Angst macht.“ In den Minsker Hinterhöfen versammeln sich die Menschen, tauschen sich aus, diskutieren, Schriftsteller tragen ihre Texte vor, Musiker geben Konzerte, Experten und Wissenschaftler halten Vorträge. Sie werden zum gelebten Symbol des Wandels, bis das System Lukaschenko Mitte Oktober beginnt, gezielt gegen Musiker, Künstler und alle diejenigen vorzugehen, die die Protestkultur in den vergangenen Monaten visuell, musikalisch, künstlerisch und emotional prägen.

Kampf den Symbolen. „Ja wychoshu!”, „Ich gehe hinaus!“ Das sind die letzten Worte von Roman Bondarenko. Dann verlässt der 31-Jährige die Wohnung am Platz des Wandels. Der Ort hat sich als einer der Symbole der Protestkultur etabliert. Am Abend des 11. November 2020 kommen maskierte Männer in den Hof, um die weißen und roten Protestbändchen vom Zaun zu schneiden. Bondarenko spricht die Männer an und wird verprügelt. Am nächsten Tag erliegt er seinen Verletzungen. Am 15. November versuchen hunderte Demonstranten die Gedenkstätte, die an dem Platz in Erinnerung an Bondarenko errichtet wurde, vor dem Zugriff durch den OMON zu schützen. Erfolglos. Am Ende des Tages sind hunderte inhaftiert und der Platz ist vollständig geräumt.

Durch den Abend, durch die Nacht. Nachdem an den letzten großen Sonntagsmärschen Anfang November jeweils mehr als 1000 Menschen inhaftiert wurden, protestieren die Demonstranten im Winter 2020/21 in ihren Bezirken, ohne sich an einem zentralen Ort (mit anderen Gruppen) zusammenzuschließen. Die Machthaber gehen jedoch weiterhin gezielt und massiv gegen Aktivisten, Journalisten, Künstler und einfache Menschen vor, die wegen abstruser Tatbestände inhaftiert und teilweise zu mehreren Jahren Haft verurteilt werden. Alle Symbole des Protests, inklusive Schneemänner oder weiß-rot-weiße Socken, werden zum Ziel des Repressionsapparates. Erschöpfung, Corona und die Winterkälte setzen den Protesten zu. Dennoch gibt es nahezu täglich kleinere Protestaktionen. Und abends ziehen Menschengruppen los, um ihrem Unmut Luft zu machen.

Hup, huuup, huuuup! Wie geht es nun weiter in Belarus, das sich offensichtlich in einer tiefen politischen Krise befindet? Auch der Schriftsteller Viktor Martinowitsch stellt sich eine zentrale Frage: „Ihr meint, die Proteste leben im Frühjahr 2021 wieder auf?“ Als die Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Allbelarussischen Volksversammlung, die am 11. und 12. Februar 2021 in Minsk stattfindet, mit Bussen vom Veranstaltungsort wegtransportiert werden, hört man es wieder: das Hupen der Autofahrer aus der Zeit, als alles begann im Sommer 2020.

Das Gefühl ist anders. Das konstatieren die Jungs der Band Rasbitaje serza pazana (dt. Das zerbrochene Herz eines Homies) in ihrem ironischen Video, das im Jahr 2020 zum viralen Kulthit avancierte. Sie tun dies im Stile der belarussischen Gopniks, die auch immer etwas emotionslos und lethargisch wirken. Die Musiker werden am 13. Februar 2021 bei einem Konzert festgenommen und müssen 15 Tage in Haft. Aschtschuschtschenija nja ze, die Stimmung ist nicht dieselbe …

Veröffentlicht am 24. Februar 2021.

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