Ein Truppenabzug ist nicht nur ein Abzug, sondern gleichzeitig auch eine Ankunft, ein Weg: von einem Land ins nächste. Als die vormals sowjetischen Truppen, die sogenannte Westgruppe der TruppenDie Besatzungstruppen der Sowjets trugen über die Jahrzehnte unterschiedliche Namen: Von 1989 bis zum Abzug der Truppen wurden sie offiziell als Westgruppe der Truppen (WGT) bezeichnet, die nach dem Zerfall der Sowjetunion Russland zugeordnet wurde.
Zuvor gab es in der Sowjetischen Besatzungszone von 1945 bis in die ersten Jahre der DDR hinein die Bezeichnung „Gruppe der Sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland“ (GSBT) und von 1954 bis 1988 Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD).
(WGT), vor 25 Jahren aus Ostdeutschland weggehen, existiert ihre alte Heimat jedoch nicht mehr. Zumindest nicht so, wie sie sie kannten, denn die Sowjetunion ist bereits in neue, aus den Teilrepubliken hervorgegangene Staaten zerfallenAuflösung der Sowjetunion: Der Zerfallsprozess der Sowjetunion begann Mitte der 1980er Jahre und dauerte mehrere Jahre an. Die Ursachen sind umstritten. Während einige hauptsächlich Gorbatschows Reformen für den Zerfall verantwortlich machen, sehen andere die Gründe vor allem in globalen Dynamiken. Eine zentrale Rolle spielte in jedem Fall die Politik der russischen Teilrepublik.
→ Mehr dazu auf dekoder.org. Die Verlegung der Truppen erfolgt binnen knapp vier Jahren. Es handelt sich um die größte Rückverlegung von Truppen, die es in Friedenszeiten je gegeben hat.
In den 1990er JahrenDie 1990er: Die 1990er Jahre waren in Russland ein Jahrzehnt des radikalen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruchs. Demokratischer Aufbruch einerseits und wirtschaftlicher Niedergang andererseits prägten die Zeit nach dem Zerfall der Sowjetunion. → Mehr dazu auf dekoder.org öffnen sich die Militärstandorte erstmals für die Blicke der Öffentlichkeit. Wohnen, Leben, Alltag – im Schwebezustand des Abzugs. Die Kasernen offenbaren dabei den nach wie vor streng geregelten Rhythmus der Soldaten, der die Disziplin aufrechterhalten sollte. Sie behalten ihren Tagesablauf bei und absolvieren ihre Trainings, wie hier eine Geschicklichkeitsübung auf dem Kasernengelände in Berlin-Karlshorst.
Bis zum Ende der DDR waren die Kasernen und die in Besitz genommenen Stadtteile der Sowjets „Horte der Fremdheit“* geblieben, exterritoriale Gebiete, zu denen die Menschen Distanz hielten – zumal den Soldaten Kontakt mit Einheimischen offiziell verboten war. Doch der Abzug auf Raten eröffnet Räume, die die Menschen hinter den Uniformen sichtbar machen: Eine Gruppe junger Leute, die gern posiert (oben). Männer mit Sekt beim Fest in der Berliner Wuhlheide (unten) zum Abschied der 6. Selbständigen motorisierten Garde-Schützenbrigade (Berlin-Brigade).
War die komplette Zahl der Militärstützpunkte bis zum Ende des Kalten Krieges nicht einmal den SED-Oberen genau bekannt, so wird nur kurz nach der deutschen Einigung damit begonnen, geradezu geräuschlos die Zelte abzubrechen: In Jüterbog tragen Soldaten Sperrmüll weg. Das gesamte Kriegsgerät wird abtransportiert – oder zu Schrott verarbeitet, wie etwa in Wünsdorf, wo sich ab 1992 verschrottete Panzer türmen. Insgesamt werden über die Jahre rund 2400 Panzer abgewrackt.
Die Militärstandorte werden ab 1991 Stück für Stück aufgegeben, jedes Jahr mehrere hundert. Der Abtransport von Kriegsgerät erfolgt zum Beispiel über den Hafen in Rostock. Die meisten Armeeangehörigen bereiten sich auf ihre Abreise per Zug vor, werden in den jeweiligen Regionen oft mit einem Zeremoniell verabschiedet. In Weimar am Güterbahnhof rücken die Soldaten bereits 1992 ab und nehmen zum Abschied Nelken entgegen.
Dabei packen auch Soldaten die Koffer, deren Großväter 1945 im Kampf gegen Hitler-Deutschland Berlin erobert hatten. Es ist ein wichtiger Teil des Selbstverständnisses der abziehenden Westgruppe, nach dem Sieg im Zweiten Weltkrieg gewissermaßen die Stellung gehalten zu haben. Gedenkveranstaltungen, wie am sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park in Berlin, sind für die Militärs von großer Bedeutung (oben). Im Treptower Park wurde im August 1994 auch der letzte Gedenk-Appell abgehalten, mit Reden von Bundeskanzler Kohl und Präsident JelzinBoris Jelzin (1931–2007) war der erste demokratisch gewählte Präsident Russlands. Er regierte von 1991 bis 1999, seine Amtszeit war durch tiefgreifende politische und ökonomische Krisen geprägt. Jelzin setzte massive Reformen in Gang: unter anderem ein Programm zur Privatisierung von Staatseigentum und ein folgenschweres Programm zur Umgestaltung der politischen Kultur. Letzteres bezeichnen viele Wissenschaftler als „Entsowjetisierungs-Programm”. , unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Für junge Rekruten galt es als Ehre, daran teilzuhaben (beide Bilder unten).
Nach der letzten großen offiziellen Verabschiedung der Truppen am 31. August 1994 in Berlin gilt der Abzug als vertragsgemäß vollzogen. Die Berlin-Brigade steigt einen Tag nach den Feierlichkeiten als offiziell „letzte Einheit“ am Bahnhof Lichtenberg in die Züge gen Osten – wobei zu diesem Zeitpunkt noch einige tausend Soldaten der Westgruppe für ein paar Tage im Land sind, um dann endgültig zu gehen.
Die Waggons sind mit Spruchbändern geschmückt, Schriftzüge wie „Мы гордимся тобой, Россия“ (My gordimsja toboi, Rossija, dt. Wir sind stolz auf dich, Russland, erstes Bild in der Reihe) sollen den Abzug aus dem nun wiedervereinigten Deutschland nach Russland in einem würdevollen Licht erstrahlen lassen.
Mit der Abfahrt aus Ostdeutschland droht in der Laufbahn vieler Offiziere der Westgruppe ein Ende als angesehener, vormals gut gestellter Militär, zumal die Westgruppe in der Sowjetunion als besonders prestigeträchtig galt. Für viele bedeutet der Schritt zurück schon persönlich eine große Ungewissheit: Wo leben? Viele der angekündigten WohnungenFür die Heimkehrer gab es eigens aufgestellte Wohnungsbauprogramme. Doch zum einen erschwerte die Wirtschaftskrise in der Sowjetunion die Finanzierung. Zum anderen befanden sich die 1990 noch geplanten Siedlungen mit dem Zerfall der UdSSR plötzlich verteilt in den drei souveränen Nationalstaaten Russland, Ukraine und Belarus wieder – zwischen denen nun aufwendig neu verhandelt werden musste. Auch der zeitgleiche Truppenabzug aus anderen europäischen Ländern, etwa aus dem Baltikum, Ungarn und Polen, sowie Misswirtschaft und Korruption erschwerten die Unterbringung der rückkehrenden Soldaten.
sind für die Rückkehrer nicht rechtzeitig fertig geworden.
Manche Soldaten werden wenig später in anderer Mission wieder unterwegs sein. Der Erste TschetschenienkriegRund zwei Monate vor der Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 erklärte der tschetschenische Präsident Dschochar Dudajew (1944–1996) die Unabhängigkeit Tschetscheniens. Ende 1994 beschloss der Kreml eine Intervention: Die von Kriegsverbrechen auf beiden Seiten begleitete Rückeroberung kostete zehntausenden Menschen das Leben. Der im August 1996 ausgehandelte Waffenstillstand fror den Konflikt ein, das Land blieb de facto unabhängig. 1999 begann der Zweite Tschetschenienkrieg, der Russlands Kontrolle über das Land wiederherstellte. Zehntausende Menschen fielen ihm zum Opfer, 2009 wurde er offiziell für beendet erklärt.
zieht zu dieser Zeit in Russland bereits herauf.
Die Bahnfahrt der Berlin-Brigade dauert mehrere Tage. Zu ihrer Rückkehr werden die Soldaten am Belarussischen Bahnhof in Moskau empfangen. Menschen mit Nelken in der Hand, insbesondere Ältere, sind gekommen, darunter auch Veteranen des Großen Vaterländischen KriegsGroßer Vaterländischer Krieg: Als Großen Vaterländischen Krieg bezeichnet man in Russland den Kampf der Sowjetunion gegen Hitlerdeutschland 1941–1945. Der Begriff ist an den Vaterländischen Krieg gegen Napoleon im Jahr 1812 angelehnt. Galt der Sieg über den Faschismus offiziell zunächst als ein sozialistischer Triumph unter vielen, wurde er seit Mitte der 1960er Jahre zu einem zentralen Bezugspunkt der russischen Geschichte. → Mehr dazu auf dekoder.org. Über der Straße hängt ein Transparent mit der Aufschrift: „Moskau begrüßt die Kämpfer der Westgruppe“. Die Veteranen dieser Gruppe treffen sich in Russland bis heute regelmäßig.
Text und Bildrecherche: Ivonne Domanski, Svea Mumme, Maximilian Szadziewski, Elena Weyer
Fotoredaktion: Andy Heller
Die Auswahl der Fotografien von Detlev Steinberg erfolgte mit freundlicher Genehmigung des Deutsch-Russischen Museums Berlin-Karlshorst aus dem Fotoband Der Abzug: Die letzten Jahre der russischen Truppen in Deutschland, Berlin, 2016.
*Satjukow, Silke (2008): Besatzer: „Die Russen“ in Deutschland 1945–1994, Göttingen, S. 96
Daniel Biskup arbeitet als freier Fotograf und fotografierte in den letzten Jahren weltweit Prominente aus Politik, Kultur und Wirtschaft, darunter Wladimir Putin, Donald Trump und Angela Merkel. 1988 reiste er das erste Mal in die Sowjetunion, um die Perestroika-Zeit zu dokumentieren. Als im Sommer 1989 Flüchtlinge nach Budapest strömten, war er ebenfalls dabei. Danach hat er den Umbruch in der DDR bis zur Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 begleitet, ebenso den darauf folgenden Truppenabzug der sowjetischen, später russischen Armee aus Ostdeutschland. Fotografien von ihm befinden sich in privaten und öffentlichen Sammlungen, darunter im Russischen Museum in St. Petersburg.
Detlev Steinberg ist 1944 in Breslau (Wroclaw) geboren und studierte nach einer Lehre zum Offset-Drucker Fotografie und Journalistik in Leipzig. Seit 1990 arbeitet er als freiberuflicher Fotograf. Von 1976 bis 1989 war er Fotoreporter für die Illustrierte Freie Welt. Während dieser Zeit arbeitete er fünf Jahre als Foto-Korrespondent in Moskau. Zuvor war er elf Jahre für die DDR-Nachrichtenagentur ADN-Zentralbild tätig. Er ist Mitglied des Verbandes der Kunstfotografen in Russland.